© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/13 / 24. Mai 2013

Der Wanderer ins Nichts
Vor neunzig Jahren wurde Albert Leo Schlageter von der französischen Besatzungsmacht hingerichtet / Das Andenken an den Widerstandskämpfer wird bis heute durch die Vereinnahmung von den Nationalsozialisten belastet
Karlheinz Weissmann

Unter den politischen Ereignissen des ereignisreichen Jahres 1923 vermerkte Martin Niemöller nur eins in seiner Autobiographie: die Erschießung Albert Leo Schlageters und das anschließende Totengedenken. Nach der Exhumierung hatte man den Leichnam Schlageters nach Elberfeld gebracht, dem Ort, von dem aus er seine Anschläge gegen die französischen Besatzungstruppen des Ruhrgebietes durchgeführt hatte. Niemöller kam als hochdekoriertem Offizier des Ersten Weltkriegs die Ehre zu, den Sarg des Toten mitzutragen, vorbei an einer schweigenden Menschenmenge unter schwarzweißroten Fahnen.

Auch die Überführung Schlageters ins heimatliche Schönau geriet zu einer Demonstration nationaler Empörung über den „Mord“ und die widerrechtliche Okkupation, den Versailler Vertrag und – was für viele Anhänger der militanten Rechten dasselbe war – die Republik der „Novemberverbrecher“.

Die Verknüpfung der verschiedenen Motive hat es den Nationalsozialisten später leichtgemacht, den Kult um den „Blutzeugen“ zu monopolisieren. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Verehrung Schlageters ein spontaner Akt war, der einem tiefen Gefühl der kollektiven Demütigung, der Hilflosigkeit und der Sehnsucht nach Vergeltung entsprang. Mit dem Satz „O Bruder du, am Pfahl dahingesunken, / du legtest sterbend unsrer Zukunft Schwellen“ endete Friedrich Georg Jüngers Gedicht „Albert Leo Schlageter“, und sogar in einer schwedischen Zeitung fand sich der Vergleich mit dem Schicksal Ferdinand von Schills unter dem „französischen Terror“ der napoleonischen Zeit. Dessen Tod sei nichts anderes gewesen als „der Beginn zum europäischen Befreiungskrieg gegen die damalige französische Unterdrückung. Die Geschichte ist eine Lehrmeisterin; es geht auf die Dauer denen nicht gut, die ihre Lehren verachten.“

Wenig spricht für die Annahme, daß Schlageter geahnt hat, welche Reaktion sein Tod auslösen würde. Sein Leben jedenfalls glich bis dahin dem vieler aus der Kriegsgeneration. Am 12. August 1894 als sechstes von elf Kindern einer Schwarzwälder Bauernfamilie geboren, wurde er früh zur geistlichen Laufbahn bestimmt. Als der Krieg begann, meldete er sich freiwillig. Bis 1918 blieb er an der Westfront eingesetzt, wurde mehrere Male verwundet, mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet und zum Leutnant befördert.

Das Kriegsende, die Niederlage und der Zusammenbruch trafen ihn unvorbereitet. Jedenfalls nahm er nach seiner Entlassung das begonnene Theologiestudium nicht mehr auf, sondern wechselte zur Volkswirtschaftslehre, brach rasch wieder ab und konzentrierte seine Energie auf die Betätigung in verschiedenen Freikorps, die im Baltikum zur Abwehr bolschewistischer Truppen aus Rußland, in Oberschlesien zur Verteidigung der verbliebenen Ostgrenze gegen Polen, im Westen zur Niederschlagung der Spartakusaufstände eingesetzt wurden.

Schlageter war zu dem Zeitpunkt nur einer von vielen aus dem „verlorenen Haufen“, der im Nachkrieg verzweifelt einen Halt und Orientierung suchte. In solchem Licht erscheinen seine Mitgliedschaft in den Wehrverbänden, im „Jungdeutschen Orden“ und zuletzt der Anschluß an die „Großdeutsche Arbeiterpartei“, eine Tarnorganisation der NSDAP, durchaus nachvollziehbar, aber eher als Teil einer Suchbewegung, nicht als Niederschlag fixierter Überzeugung.

Wenn man den mageren Selbstzeugnissen etwas über seine Vorstellungswelt entnehmen kann, dann einen tiefen und selbstverständlichen Glauben und ausgeprägten Patriotismus, der die Entschlossenheit speiste, die Niederlage nicht hinzunehmen. Daraus erklären sich wohl auch die Weigerung, in die Normalität des Zivillebens zurückzukehren und der Entschluß zum „aktiven Widerstand“ gegen die Okkupation des Ruhrgebiets.

Damit geriet Schlageter erneut zwischen zwei Fronten: die Reichsregierung, die den „passiven Widerstand“ propagierte und von Anschlägen je länger, je weniger wissen wollte, und die Besatzungsmacht, die ihre Stellung mit allen Mitteln verteidigte. Hinzu kam noch, daß Gruppen wie die „Organisation Heinz“, der Schlageter angehörte, vom Wohlwollen einzelner Behörden abhingen, schlecht organisiert, untereinander zerstritten und zum Teil von Spitzeln durchsetzt waren. Dies, ein erstaunlicher Mangel an konspirativem Talent und der massive Verfolgungsdruck der französischen Behörden erklären hinreichend die relativ rasche Verhaftung Schlageters.

Die Anklage vor einem französischen Militärgericht und die Verurteilung wegen Spionage und Sabotage machen allerdings nicht deutlich, daß Schlageter eine Eskalation des Konflikts, wie sie von anderen Teilen des aktiven Widerstands gewollt war, nicht mittrug. Bei den Anschlägen seines Trupps, zuletzt dem auf die Eisenbahngleise bei Kalkum, ging es immer darum, Menschenleben zu schonen. Das Tribunal hat dem keine Bedeutung beigemessen, sondern ein Todesurteil verhängt. Dessen Vollstreckung schien anfangs unwahrscheinlich, zumal sich viele Stimmen, vor allem aus dem kirchlichen Bereich, zugunsten einer Begnadigung erhoben und auch die Reichsregierung protestierte.

Aber der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré ließ sich von einer verhetzten Öffentlichkeit daheim und einer Opposition, die ihm Weichheit gegenüber den Deutschen vorwarf, dazu bringen, das Urteil zu bestätigen. Ein Gnadengesuch lehnte Schlageter ab. Nach Aussage aller Zeugen nahm er sein Schicksal sehr gefaßt hin. Am 26. Mai 1923 wurde er auf der Golzheimer Heide bei Düsseldorf erschossen.

Schon zur feierlichen Beisetzung Schlageters in Schönau erschien Hitler demonstrativ. Das geschah zum Zweck der Vereinnahmung, unbeschadet der Tatsache, daß Schlageters Handlungsweise der damaligen NSDAP-Parteilinie widersprach. Denn Hitler betrachtete die Ruhrbesetzung ausschließlich als Möglichkeit, die Krise der Republik zu verschärfen und hatte deshalb jede Beteiligung am „Ruhrkampf“ verboten, um alle Kräfte auf die „nationale Revolution“ zu konzentrieren, die dann mit dem Putschversuch am 9. November in München so kläglich scheiterte.

Es ist deshalb durchaus plausibel, wenn Ernst von Salomon berichtete, Schlageter habe sich in Briefen negativ über den „Führer“ geäußert. Umgekehrt folgte der Zugriff der Nationalsozialisten auf den Toten nicht irgendeiner Abwägung der Motive Schlageters, sondern der Möglichkeit, sich auf einen „Märtyrer“ der deutschen Sache berufen zu können. Daß nur die Sozialdemokratie der Weimarer Republik verächtlich vom „Schlageterrummel“ sprach, aber dessen Verehrung von den Völkischen bis in die Kreise der Liberalen und des Zentrums reichte, konnte dieser Strategie nur nutzen.

Dagegen stellte der Vorschlag des Vertreters der Komintern Karl Radek, den „tapferen Soldaten der Gegenrevolution“, den „Wanderer ins Nichts“, zum Gewährsmann eines „Schlageter-Kurses“ der KPD zu machen, zwecks Vorbereitung einer Querfront von Kommunisten und Nationalisten, Sowjet-union und Deutschland, nur eine kurzfristige Irritation dar, die in den Kreisen der jungkonservativen Intelligenz für Aufmerksamkeit sorgte, aber kaum darüber hinaus und in Moskau rasch verworfen wurde.

Die Verklärung Schlageters begann im Augenblick seines Todes. Sie hat in der NS-Zeit ein außergewöhnliches Maß erreicht und wurde nur noch von der rituellen Ehrung Horst Wessels übertroffen. Im ganzen Reich gab es mehr als hundert Gedenkstätten, der Hinrichtungsplatz wurde in ein Monument verwandelt, überragt von einem gigantischen Kreuz. Schon 1933 war Hanns Johsts Schauspiel „Schlageter“ uraufgeführt worden, das zur Pflichtlektüre deutscher Schüler werden sollte, gewidmet „Adolf Hitler in liebender Verehrung und unwandelbarer Treue“, endend mit Schlageters Worten „Deutschland! Erwache!“ Tatsächlich hatte der vor seinem Tod nur noch um Beichte und Sakrament gebeten, und seine letzten Worte waren fern von jedem Pathos: „Grüßen Sie mir Eltern, Geschwister und Verwandte, meine Freunde und mein Deutschland.“

Es besteht wohl keine Aussicht, daß Schlageter Gerechtigkeit widerfährt. Die meisten Erinnerungsorte sind geschleift, sein Name ist vergessen oder wird von denen in Beschlag genommen, deren Motive oft genug unsauber sind. Das ist um so bitterer, als er in einer Welt als Unperson oder gar als „Wegbereiter“ gilt, die jedem kommunistischen Résistant und jedem Urwaldpartisanen die Ehre gibt, ohne Bereitschaft diesem Mann zuzugestehen, was jedem zugestanden werden muß: die Beurteilung seines Charakters und seiner Tat im Horizont seiner Zeit.

Fotos: Freikorps-Einheit auf der Dünabrücke mit Schlageter als Geschützführer befreit Riga am 22. Mai 1919 von der bolschewistischen Herrschaft: Ein tiefes Gefühl der kollektiven Demütigung, der Hilflosigkeit und der Sehnsucht nach Vergeltung; Albert Leo Schlageter im Ersten Weltkrieg: Keine Aussicht auf Gerechtigkeit

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