© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/13 / 31. Mai 2013

Die Krise und der Wohlfahrtsstaat
Korrupt bis ins Mark
Christoph Braunschweig

Für Frank Schirrmacher, einen der Herausgeber der FAZ, hat sich die moderne Ökonomie zu einem entfesselten „Monster“ entwickelt („Ego: Das Spiel des Lebens“). Dabei verwechselt er typischerweise Ursache und Wirkung: Die Politik und ihre Wähler haben sich fatalerweise von allen elementaren historischen und ökonomischen Erkenntnissen abgewendet und wundern sich nun wie Zauberlehrlinge über das angerichtete Unheil. Sie verstehen nicht, daß überzogene Sozialsysteme letztlich die Grundlagen ihres Wohlstandes, ihrer Moral und ihrer persönlichen Freiheit zerstören. Beispiel: Sie lösen die Disziplin des familiären Zusammenhalts auf. Das „Versicherungssystem“, das soziale Sicherheitsnetz namens Familie ist nicht mehr überlebensnotwendig, wenn kollektive (staatliche) Konstrukte bereitstehen.

Mit der zerfallenden Institution Familie explodieren allerdings die Kosten der sozialen Sicherung. Zugleich sinkt die Geburtenrate, was die künftigen Kosten der Sozialsysteme für eine überalterte Bevölkerung noch weiter nach oben treibt. Der auf dem finanziell unhaltbaren Umlageverfahren aufgebaute Sozialstaat mit seinen Sicherungssystemen muß von immer weniger jüngeren Menschen finanziert werden für immer mehr Alte, Kranke und Hilfsbedürftige. Die von der Politik angestrebte Lösung mittels Einwanderung ist bisher aber kontraproduktiv, denn zuviel Einwanderung erfolgt nicht in die Arbeitsmärkte, sondern in die Sozialsysteme. Darüber hinaus verstärkt die mangelhafte Integrationsfähigkeit und Integrationswilligkeit die Auflösung der gewachsenen Gesellschaftsstrukturen; die Gesellschaft wird nicht nur finanziell, sondern auch hinsichtlich ihres Zusammenhalts überfordert.

Zugleich führen die endlos steigenden Steuern, Abgaben und Beiträge zur Sozialversicherung zur Erosion der Eigenvorsorge- und Selbsthilfemöglichkeiten der Menschen. Deren Abhängigkeit vom Sozialstaat wächst noch mehr. Die leeren öffentlichen Kassen lassen die Politik immer mehr zum Mittel der Verschuldung und letztlich dann zur „Verschleierungsdroge Inflation“ (Roland Baader) greifen. Die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit sinkt schleichend, aber fortwährend. Der Sozialstaat wird zur Armutsfalle der zuvor entmündigten Menschen.

Welche Raub-, Betrugs- und Ausbeutungsmechanismen hierbei – im Zusammenspiel aus Politik, Zentralbanken und Gewerkschaften – tatsächlich ablaufen, zeigt folgende Betrachtung: Eine Steigerung der Arbeitsproduktivität von rund 70 Prozent in den vergangenen 20 Jahren müßte eine Kaufkraftsteigerung der Einkommen ebenfalls in Höhe von 70 Prozent entsprechen. In Wirklichkeit aber ist das verfügbare Realeinkommen der Deutschen konstant geblieben. Dies bedeutet, daß der gesamte Produktivitätsfortschritt, der eigentlich den Beschäftigten hätte zugute kommen müssen, über gestiegene Steuern und Abgaben sowie Inflation entzogen beziehungsweise sozialisiert wurde. Was Arbeit und Kapital, also Arbeitnehmer und Unternehmer, in 20 Jahren an Reichtumsvermehrung erarbeitet haben, ist in den umverteilenden Institutionen des Sozialstaates sowie in den durch Liquiditätsschwemme des Zentralbanksystem verursachten und überdeckten Unwirtschaftlichkeiten und dem Kaufkraftverlust vollständig versandet.

Im modernen Wohlfahrtsstaat haben „soziale Verantwortung“ und „soziale Gerechtigkeit“, obwohl sie niemand definieren kann, längst die Zehn Gebote ausgestochen. Sie sind in Wirklichkeit nichts anderes als Strategien des politischen Machtzugewinns. Das Wunschbild der „sozialreligiösen“ Kollektivisten ist der beliebig lenkbare, unmündige, abhängige und führungsgläubige Mensch, der gar nicht merkt, daß er um die Früchte seiner Arbeit gebracht wird. Das in den Augen der Sozialstaatsbürokratie kranke, gemeinschaftsschädliche Bewußtsein des freien Bürgers gilt es auszumerzen. Es geht um den Triumph der „sozialen“ Gesinnung über die vernunftgebundene Urteilskraft (Hermann Lübbe).

„Mehr Staat als Privat“ (Walter Hamm) macht es den Regierenden auf jeden Fall leichter. Da spielt es keine Rolle, daß die hohe Steuerbelastung leistungshemmend wirkt. Der Staat geht mit (fremdem) Geld stets nachlässiger um als Private. Die Umverteilung im Sinne des Gleichheitsprinzips vermindert das Wirtschaftswachstum, die Beschäftigung und somit den Lebensstandard. Daß eine zunehmend schrumpfende Erwerbsbevölkerung die enormen Lasten des Wohlfahrtsstaates mit seiner jetzt schon aufgelaufenen Verschuldungshöhe und rund 40 Milliarden Euro Zinslast pro Jahr (bei historisch niedrigem Zinssatz!) nicht wird tragen können, daß also nicht mehr, sondern weniger Staat notwendig ist – das alles verdrängen die Akteure der Wählerbestechungsdemokratie in ihrer kollektiven Unvernunft. Auf das sozialstaatliche Mantra der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit starrend, will man die sogenannten „Besserverdiener“ stärker noch als bisher zur Finanzierung des sozialen Füllhorns heranziehen.

Letztlich hilft nur, die konsumptiven Staatsausgaben zu kürzen und die viel zu hohe Verschuldung der öffentlichen Haushalte zu senken. Wie die südeuropäischen Länder, die aufgrund der fatalen EU-Währungsunion mit viel zu niedrigen Zinsen in einen Konsumrausch mit anschließender Überschuldung geführt wurden, so lebt auch Deutschland als das wirtschaftlich vermeintlich solideste Land Europas längst über seine Verhältnisse. Noch wähnen sich Leistungsempfänger und Haushaltspolitiker in relativer Sicherheit, daß das enorme strukturelle Haushaltsdefizit ohne tiefe soziale Konsolidierungsmaßnahmen bewältigt werden könne.

Doch die Zeit arbeitet gegen sie. Es ist die Frage, ab wann das Mißtrauen der Kapitalmärkte auch Deutschland treffen wird. Auf Pump leben kann man immer nur so lange, wie man Geldgeber findet. Steigen die Zinsen als Risikoprämien für die weitere Neuaufnahme von Schulden, wird die Lage schnell kritisch.

Der schuldeninduzierte Wohlfahrtsstaat beruht also auf dem professionellen Geschäftsprinzip der Politiker, die im Sinne der Stimmenmaximierung das soziale Füllhorn über immer mehr Anspruchsgruppen der Wählerschaft ausschütten. Die Wähler tun auch ein übriges dazu: Sie befeuern mit ihrem Anspruchsverhalten diesen teuflischen Kreislauf ständig. Wenn dann irgendwann gar keine Haushaltsmittel mehr für weitere Sozialleistungen vorhanden sind, können die Politiker aufgrund ihres staatlichen Geldmonopols die ungedeckten Schulden einfach über die Schaffung von Geld aus dem Nichts über die Notenpresse („easy money“) betreiben.

Das staatliche Geldmonopol ermöglicht auf diese Weise erst die rasante Staatsverschuldung, was jedoch nur von wenigen Ökonomen offen zugegeben wird.

Es ist nicht der freie Markt, der versagt, sondern das staatsmonopolistische Geld, das den Wirtschaftskreislauf systematisch vergiftet. Hier liegt die eigentliche Ursache der demokratischen Krankheit, die praktisch das gesamte westliche Demokratiemodell betrifft. Auf diesem Weg wird aus dem freiheitlichen Kapitalismus ein „Sozial-Sozialismus“. Die Staatsabhängigkeit des modernen Menschen nimmt kontinuierlich zu, er wird zum Untertan des Sozialstaates.

Das „easy money“ schafft im Sinne der Sozialpolitiker die gewünschte Wohlfahrtsabhängigkeit und somit zunehmende Unmündigkeit der Menschen. Ethik und Moral werden durch die schamlose Verschuldung zerstört. Die intellektuelle Korruption und der geistig-moralische Zerfall, so der englische Soziologe Dennis O’Keeffe von der University of North London in seinem Werk „Political Correctness and Public Finance“ (1999), sind ein künstliches Erzeugnis der öffentlichen Gelder aus Steuern und Staatsverschuldung. Indem der Staat seinen Bürgern einredet, die staatlich organisierte Umverteilung durch steuer- und schuldeninduzierte Umverteilung sei gerecht und somit recht, macht er sie zu Mittätern, denen auch im privaten Bereich das Gefühl für Recht und Moral mehr und mehr verlorengeht.

Das Ausgeben von nicht vorhandenem Geld (Haushaltsdefizit und Staatsverschuldung) und von Geld, das anderen Leuten gehört, ist die verführerischste von allen Arten der Korruption. Oft endet die Schuldenmacherei in finanziellen – und damit auch familiären und persönlichen – Katastrophen. Der Staat ist eben eine unersättliche Geldfreßmaschine, die Zentralbanken sind seine unermüdlichen „Gelddruckmaschinen“.

Den „seichten Großkrieg“ (Roland Baader) an der Wohlfahrtsfront könnte die Politik ohne das Staatsmonopol auf beliebige Geldvermehrung nicht führen. Das staatliche Zwangsgeld ermöglicht es ihr jedoch, die Ersparnisse der Bevölkerung durch Manipulation in Form von Inflation/Deflation sozusagen lautlos zu konfiszieren. Die Zentralbanken, die den längst überschuldeten Wohlfahrtsstaat mit seinem „Sozial-Sozialismus“ finanzieren und den Kapitalismus deformieren beziehungsweise pervertieren, sind zu Spielbanken verkommen.

Es gibt keinen schmerzfreien Ausweg aus der gegenwärtigen Krise. Der einzig richtige Weg wäre, die Marktkräfte frei wirken zu lassen, damit die Preise (inklusive Löhne und Gehälter) wieder auf das tatsächliche Markt-Gleichgewicht sinken können. Alle bisherigen „Rettungsmaßnahmen“ verzögern nur diese letztlich ohnehin notwendige Anpassung – und damit in der Folge auch die Erholung. Bis dahin werden nur weiter ungedecktes Papiergeld und Kreditschulden angehäuft, die irgendwann zwangsläufig in die Inflation münden.

Inflation und Kreditexpansion bewirken immer Fehlanpassungen und Fehlinvestitionen in der Wirtschaft, die später wieder bereinigt werden müssen. Die künstliche monetäre Expansion senkt auch die Zinsen und setzt dadurch falsche Signale für die Entscheidungen von Unternehmen und Investoren. Eine solche Wirtschaft kann nur Scheinblüten und Scheinreichtum erzeugen, irgendwann aber muß sie schrumpfen und entsprechend verarmen.

Wachsen und wohlhabender werden kann eine Volkswirtschaft nur, wenn sie mehr produziert als konsumiert; und Mehrleistung setzt Investition voraus, also echte Ersparnisse. Reichtum auf Grundlage schuldenfinanzierten Konsums gibt es nur an einem Un-Ort: im Schlaraffenland.

 

Prof. Dr. Christoph Braunschweig, Jahrgang 1959, studierte bei Friedrich August von Hayek Wirtschaftswissenschaften in Freiburg/Breisgau. Nach mehrjähriger Geschäftsführertätigkeit in der freien Wirtschaft lehrt er seit 2005 an der Staatlichen Wirtschaftsuniversität Jekaterinburg die Theorie der klassisch-liberalen „Hayek-Schule“.

Christoph Braunschweig: Die demokratische Krankheit. Der fatale Teufelskreis aus Politikerversprechen und Wähleranspruch. Olzog Verlag, München 2012, broschiert, 206 Seiten, 22,90 Euro

Foto: Ausgeplündert im Stock der Steuerschraube: Das verfügbare Realeinkommen der Deutschen ist in den letzten zwei Dekaden konstant geblieben – trotz erheblich gestiegener Arbeitsproduktivität

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