© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/13 / 07. Juni 2013

Der mit Rußland brach
Deutsche Außenpolitik vor 1914: Hans Fenskes mildes Urteil über Friedrich von Holstein, den gescheiterten Erben Bismarcks
Klemens Weigel

Als im März 1890 der junge Kaiser Wilhelm II. den Reichskanzler und Reichsgründer Otto von Bismarck für alle Welt überraschend in den Ruhestand verabschiedete, stand der 1887 geschlossene Rückversicherungsvertrag mit Rußland zur Verlängerung an. Für den Eisernen Kanzler wie für seine Verhandlungspartner aus Sankt Petersburg eigentlich eine Formsache. Doch kaum hatte Bismarck seinen Schreibtisch geräumt und war in Richtung Sachsenwald verschwunden, wanderte der schon unterschriftsreife Vertrag ins Archiv des Auswärtigen Amtes.

Die Historiker sind sich bis heute einig: Diese Aufkündigung der in den Befreiungskriegen wurzelnden, mitunter fragilen, aber überwiegend guten und beständigen preußisch-russischen Beziehungen war ein kardinaler Fehler. Fortan sei dem Reich, um es mit Fontanes Dubslav von Stechlin auszudrücken, lediglich das Bündnis mit „Drehorgelspielern und Mausefallenhändlern“, mit Österreich und Italien, geblieben. Die Schuld an dieser verhängnisvollen Weichenstellung, die 1904 zur englisch-französischen „Entente cordiale“ und damit zur „Einkreisung“, zur internationalen Isolierung Deutschlands und letztlich zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte, trug nach lange vorherrschender Lesart ein öffentlichkeitsscheuer Geheimrat in der Wilhelmstraße, Friedrich von Holstein (1837–1909), den noch die Überschrift eines Zeit-Artikels zum 100. Todestag (Ausgabe 20 vom 7. Mai 2009) selbst gegen die rehabilitierenden Intentionen des im SED-Umfelt akademisch sozialisierten Autors Gerd Fesser als „Dämon des Auswärtigen Amtes“ präsentierte.

Lange begünstigte die Quellenlage die Legendenbildung um Holstein, den der NS-Historiker Walter Frank 1933 zu Recht den „geheimnisvollsten“ unter den „Schicksalsmännern des wilhelminischen Reiches“ nennen durfte. Damals war der Schleier erst um einige Zentimeter angehoben worden durch Helmuth Rogges umfangreiche Edition der Briefe Holsteins an seine Cousine und Urfreundin Ida von Stülpnagel (1932), die „schollenverwachsene deutsche Land-edelfrau“ aus der Neumark, wie Frank sie in seiner Rezension tituliert.

Weitere zwanzig Jahre sollten vergehen, bevor der US-Historiker Norman Rich in seiner vierbändigen Sammlung der „geheimen Papiere“ Holsteins, die Werner Frauendienst zwischen 1956 und 1963 in deutscher Fassung herausgab, den Nebel um die numinose Aura der „Grauen Eminenz“ (Maximilian Harden) lichtete. Seine nahezu ultimative Biographie des Diplomaten (1965), dem Bismarck eine „Qualifikation für schmutzige Aufträge“ attestierte, ist jedoch gar nicht mehr ins Deutsche übersetzt worden.

Beinahe konsequent fehlt daher Holstein – in bemerkenswert deutsch-deutscher Gemeinsamkeit – in den kanonischen Porträtgalerien von Gustav Seeber („Gestalten der Bismarckzeit“, Ost-Berlin 1986/87) und Michael Fröhlich („Das Kaiserreich. Portrait einer Epoche in Biographien“, München 2001).

Der emeritierte Freiburger Historiker Hans Fenske widmete sich 2009 mit seiner Studie, die Holstein als „Außenpolitiker mit Augenmaß“ würdigte, also einem durchaus unabgeschlossenen „Fall“, dessen Bedeutung für die Geschichte des Kaiserreiches und vor allem für die Vorgeschichte der 1914 einsetzenden „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts schwerlich zu überschätzen ist.

In einem Aufsatz für den jüngsten 98. Band der Baltischen Studien (Pommersche Jahrbücher für Landesgeschichte) konsolidiert Fenske seine um Abgeklärtheit bemühte Holstein-Deutung. Zugestanden wird von ihm, daß die Entscheidung, 1890 dem russischen Bären die kalte Schulter zu zeigen, „ein schwerer Fehler“ gewesen sei. Doch könne man dies nicht Holstein allein anlasten. Der Kaiser und Bismarcks Nachfolger, Reichskanzler Leo von Caprivi, trügen gleich große Verantwortung. Zwar prägte Holstein den mit „Volldampf“ (Wilhelm II.) gesteuerten „Neuen Kurs“, die „Politik der freien Hand“, die das Reich in den 1890ern verfolgte, aber er habe keineswegs den „überragenden Einfluß“ ausgeübt, den ihm Zeitgenossen und Historiker nachsagten.

Dem in Schwedt an der Oder geborenen, in Hinterpommern und Berlin aufgewachsenen preußischen Pflichtmenschen sei es stets nur um die „Sicherung des Reiches“ gegangen, wobei ihm ein festes, aber „vorsichtiges Vorgehen“ geraten schien. Kaum etwas bleibt bei Fenske übrig von Friedrich Meineckes erboster Kritik an der „feigen Nebenzimmerpolitik“ des so machtgierigen wie lichtscheuen Intriganten (1927), die zuletzt noch John C. G. Röhls Abschlußband (2008) von dessen monumentaler Wilhelm II.-Biographie infiltrierte.

An der Verschlechterung von Deutschlands außenpolitischer Lage, wie sie 1906 im Jahr von Holsteins Demission beim Debakel der Marokkopolitik offenbar geworden sei, trage die AA-Exzellenz, die früh vor der „nervösen“, wetterwendischen Natur des so selbstherrlichen wie außenpolitisch inkompetenten Kaisers gewarnt habe, die geringste Schuld. Im Gegenteil, so schließt sich Fenske einer Bewertung des Reichsarchivars Friedrich Thimme von 1931 an: Es sei geradezu ein nationales Unglück gewesen, daß der subalterne Holstein die Politik, die ihm als die für Deutschland gedeihlichste vorschwebte, gar nicht selbständig durchführen konnte.

Ob mit diesem Befund die Dämonisierung nicht in Idealisierung umschlägt, darf gefragt werden. Denn die Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages wäre nun einmal ohne Holsteins Intervention kaum denkbar gewesen. Und die „Politik der freien Hand“, die Bismarck nur im kontinentalen Rahmen verfolgte, mußte im nach Asien und Afrika ausgreifenden weltpolitischen, imperialistischen Wettrennen um einen „Platz an der Sonne“ in die Sackgasse führen, da, wie Erich Erfurt 1940 analysierte, das Reich zwar die stärkste europäische, aber die schwächste unter den globalen Großmächten war. Wer dann wie Holstein in dieser Lage darauf vertraute, die Gegensätze zwischen den konkurrierenden Mächten England, Frankreich und Rußland seien „in alle Ewigkeiten feststehende Tatsachen“, wer also unfähig war, die Dynamik internationaler Beziehungen ins geopolitische Kalkül zu ziehen, der habe zweifellos mitgeholfen, den „Ring um Deutschland“ zu schließen.

Diese Probleme klammert Fenske aus. Zu einer angemessenen Bewertung Holsteins wären sie aber genauso zu erörtern wie die von ihm gleichfalls vernachlässigte mentale, psychologische Dimension einer Außenpolitik der „wirklichkeitsfremden Konstruktionen“ (Erfurt). Vielleicht resultierte sie aus dem Charakter des letzten seines Geschlechts, der zwar ein Stilist von Fontanes Format war, dieses Talent aber unterdrückte, stattdessen als arbeitswütiger Junggeselle einsam „im Winkel“ lebte, als „Sonderling“ jeden gesellschaftlichen Verkehr mied, und der als „nomadisierender Individualist“, als ein sich „außerhalb jeder Tradition“ fühlender „Mensch ohne Wurzeln und Bindungen“ (Frank) nur als Kind seiner von Untergangsängsten geschüttelten „dekadenten“ Epoche zu verstehen wäre.

Fotos: Bismarck inmitten seines Stabes im Hauptquartier während des Deutsch-Französischen Krieges 1871, Friedrich von Holstein stehend rechts außen: Von Bismarcks Architektur blieb nur das Bündnis mit „Drehorgelspielern und Mausefallenhändlern“; Revers-Medaille gedenkt des Dreibunds Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien: Sonderling im Winkel; Friedrich von Holstein um 1900: Schicksalsmann des wilhelminischen Reiches

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