© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/13 / 07. Juni 2013

Weniger Tote, mehr Infizierte
Drei Jahrzehnte nach der Entdeckung des HI-Virus machen Aids-Forschung und Therapie Fortschritte
Manfred Thiel

Mitunter benötigt die Akademie der Wissenschaften in Stockholm erhebliche Bedenkzeit, um den Stellenwert einer Forschungsleistung einzuschätzen und mit dem Nobelpreis zu belohnen. Bei der Virologin Françoise Barré-Sinoussi und ihrem Kollegen Luc Montagnier dauerte es 25 Jahre, bevor ihnen diese Ehre für Arbeiten zum Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) zuteil wurde. Das französische Forscherduo erhielt 2008 den Medizinnobelpreis für die Beschreibung des Erregers der Immunschwächekrankheit Aids, die sie 1983 im Wissenschaftsmagazin Science publiziert hatten.

Allerdings, so gestand Barré-Sinoussi rückblickend der Fachjournalistin Helmine Braitmaier ein (Bild der Wissenschaft, 4/13), sie habe damals die Bedeutung ihrer Entdeckung nicht einmal ansatzweise so hoch eingeschätzt. Die Millionen Toten, die das sich epidemisch ausbreitende HI-Virus forderte, habe man sich sowenig ausgemalt wie die Hilflosigkeit der „medizinischen Gemeinschaft“.

Erst heute, nach mindestens 50 Millionen Aids-Opfern, scheint sich eine Wende anzubahnen. Denn die Zahl der tödlich endenden Infektionen geht zurück. Vom höchsten Niveau 2005, als weltweit 2,3 Millionen Menschen dem Virus erlagen, sank die Zahl der Aids-Toten 2011 auf 1,7 Millionen. Von einer „Entwarnung“ ist Unaids, das Aids-Programm der Uno, aber noch sehr weit entfernt, da derzeit 34 Millionen Menschen mit HIV infiziert sind und die Zahl der Neuinfektionen stetig steigt.

Gleichzeitig erhöhen sich jedoch die Chancen, das tödliche Ende der Krankheit zumindest lange hinauszuzögern – dank der Fortschritte bei Prävention und Therapie. Da die UN-Behörde Signale aus Forschungslaboren, die vereinzelt eine baldige „Heilung“ suggerieren, überbewertet, glaubt man das Ziel anpeilen zu können, bis 2015 allen Erkrankten Zugang zu hochwirksamen antiretroviralen Medikamenten verschaffen, die Neuinfektionen bei Erwachsenen halbieren und bei Kindern vollständig verhindern zu können.

Beflügelt wurden solch ehrgeizige Hoffnungen seit Juli 2012 von der erstmaligen Zulassung eines Medikaments in den USA. Das Kombinationspräparats Truvada soll vor HIV-Infektionen schützen. Von vier Versuchsreihen habe sich indes eine, wie Braitmaier anmerkt, als „wirkungslos“ erwiesen. Bis 2015, so zitiert sie Norbert Brockmeyer, Leiter des Kompetenznetzes HIV/Aids der Dermatologischen Klinik der Universität Bochum, lasse sich die von den UN anvisierte markante Eindämmung des HI-Virus nicht erreichen.

Die Epidemie könne vielleicht „irgendwann gestoppt werden“, aber sicher nicht kurzfristig. Dringlicher sei, vor allem in Afrika und Osteuropa, die Bevölkerung aufzuklären und dort mehr HIV-Positive zu therapieren. An den Risikogruppen habe sich nichts geändert. Nach wie vor überproportional oft infizieren sich homosexuelle Männer, Prostituierte und Drogensüchtige. Das bestätigen auch die relativ niedrigen, aber weiter steigenden Zahlen aus Deutschland, wo 2012 etwa 78.000 HIV-Positive lebten, davon 80 Prozent schwule Männer. Die seit 1990ern sinkende Aids-Todesrate liegt bei derzeit 500 bis 600 pro Jahr.

Brockmeyers skeptische, von den UN-Visionen abweichende Prognosen dürften auch dadurch beeinflußt sein, daß die kurzzeitig euphorisch stimmenden Berichte über eine HIV-„Wunderheilung“ bald Ernüchterung wichen. 2008 war es dem Berliner Onkologen Gero Hütter gelungen, denUS-Amerikaner Timothy Brown mit einer Transplantion von Blutstammzellen eines HIV-resistenten Patienten gleichzeitig von Aids wie von seinem Blutkrebs zu heilen.

In diesem singulären Fall hätten sich „kühnste Hoffnungen“ erfüllt, wie Braitmaier meint, doch wird diese riskante Methode, bei der ein Drittel der Patienten nach der Transplantation stirbt, aus „ethischen Gründen“ auf einen kleinen Kreis von Infizierten beschränkt, deren Ende mit Hilfe von Medikamenten nicht länger verzögert werden könnte.

Mit Hütters Therapie ist zwar prinzipiell das „Dogma der Unheilbarkeit von HIV“ durchbrochen worden, aber „unter Kontrolle“, wie ein Beitrag von Bruce D. Walker (Harvard Medical School, Boston) im Spektrum der Wissenschaft (5/13) verheißt, ist sie deshalb nicht. „Unter Kontrolle“ ist sie nur bei Infizierten, die mit dem Virus jahrzehntelang leben, ohne an Aids zu erkranken.

Das gelingt ihnen, weil bei statistisch einem von 300 HIV-Infizierten das Immunsystem aufgrund einer genetischen Besonderheit vor den Angriffen der Erreger gefeit ist. Von diesen ungewöhnlichen Immunreaktionen der HIV-„Elitekontrolleure“ hofft Walker lernen und mit seinem umfangreichen, von der Gates-Stiftung mit 20 Millionen Dollar finanzierten genetischen Forschungsprojekt profitieren zu können.

Walker ist einem entscheidenden Immunprotein auf der Spur, dessen Mutation bei wenigen Menschen dafür sorgt, das HI-Virus zu „beherrschen“. So zeichnen sich die Prozesse, die auf molekularer Ebene zwischen Erregern und Immunsystem ablaufen, inzwischen „genauer“ ab. Er müsse sie aber erst „besser verstehen“, so daß es bei der Masse jener Patienten, die über eine „normale“, angreifbare Virenabwehr verfügen, dauern werde, bis medikamentöse Stärkungen des Immunsystems verfügbar seien.

Bruce D. Walker-Beitrag über „HIV unter Kontrolle“ im Spektrum der Wissenschaft (5/13): www.spektrum.de

Aids-Projekte der Gates-Foundation: gatesfoundation.org/

 

HIV und Aids-Gefahr in Deutschland

Laut Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) lebten 2012 etwa 78.000 HIV-Infizierte (63.000 Männer und 15.000 Frauen) in Deutschland. Zwei Drittel der Männer haben sich über homosexuelle Kontakte angesteckt. Über die Hälfte der heterosexuellen Ansteckungen erfolgten im Ausland. Die Zahl der nicht diagnostizierten HIV-Fälle beziffert das RKI auf 14.000. In den vergangenen 30 Jahren starben 27.000 Aids-Patienten. Voriges Jahr gab es 550 Todesfälle und etwa 3.400 Neuinfektionen. Bei den HIV-Erstdiagnosen liegen Deutsche mit 63 Prozent an der Spitze. Von den ausländischen Neuinfizierten stammen laut RKI 33,9 Prozent aus Schwarzafrika, vor allem der Elfenbeinküste, Nigeria und Ghana. 32,3 Prozent sind Europäer, wobei Zuwanderer aus Rußland, Italien, Polen und Rumänien dominieren. Bei den neuinfizierten Asiaten (15,5 Prozent) kommt jeweils über ein Viertel aus der Türkei und Thailand. 9,8 Prozent der Neufälle stammen aus Amerika.

Statistiken des Robert-Koch-Instituts: rki.de/DE/

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