© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/13 / 07. Juni 2013

Der Kampf ums Nadelöhr
Mittenmang im Tübinger Getümmel: JF-Redakteur Christian Vollradt über das feucht-fröhliche Abenteuer Stocherkahnrennen
Christian Vollradt

Der Startschuß ist noch nicht verhallt, da hat sich der Neckar über seine gesamte Breite bereits in eine brodelnde olivfarbene Brühe verwandelt. Über vierhundert Arme pflügen auf Kommando durch das an diesem wolkenverhangenen Fronleichnamsnachmittag verdammt kalte Naß: Es ist wieder einmal Stocherkahnrennen in Tübingen, einer der Höhepunkte im Veranstaltungskalender der traditionsreichen Universitätsstadt. Tausende Schaulustige säumen den zweieinhalb Kilometer langen Rundkurs um die Neckarinsel, sie stehen am Ufer, sitzen auf der Mauer zu Füßen des berühmten Hölderlinturms oder beugen sich dichtgedrängt über eines der Brückengeländer, um das Spektakel möglichst hautnah zu erleben.

Wer es noch hautnäher liebt, muß zur Mannschaft eines der 56 teilnehmenden Kähne gehören, die meist von Studentenverbindungen oder einigen Fachschaften gestellt werden. Wie ich: „eingebettet“ auf dem Kahn der Alten Straßburger Burschenschaft Germania, unter den Studenten eindeutig der Älteste (dessen „Neckarpatent“ nunmehr fast zwanzig Jahre zurückliegt) ...

Normalerweise ist der Stocherkahn, der zu Tübingen gehört wie die Gondel zu Venedig, ein sehr gemütliches Fahrzeug. Etwa acht Meter mißt so eine flache Zille aus Eichenholz. Die Passagiere sitzen auf losen Brettern seitlich zur Fahrtrichtung. Der Stocherer steht auf einer etwas erhöhten Plattform und stakt mittels einer sechs Meter langen Holzstange mit Metallspitze.

Doch gemütlich ist hier gar nichts. Beim Rennen gehören außer dem Stocherer noch sieben Mann zur Crew, die halb knieend, halb liegend mit den Armen paddeln. Der Neckar hat Hochwasser, die Strömung ist beachtlich. Schon die Startaufstellung war mit einigen Kollisionen verbunden. Wolfram, unser Mann an der Stange, hatte uns noch kurz zuvor vergattert: „Nicht gleich zu Beginn verausgaben, schont eure Kräfte für die zweite Hälfte stromaufwärts; nicht an der Neckarinsel in den falschen Arm geraten, also gleich nach links ziehen und achtet darauf, daß ihr nicht aus Versehen zuviel Wasser ins Boot schaufelt!“

Viel hängt jetzt ab von unserer „Bugsau“, die eigentlich Geowissenschaften studiert, aber nebenbei Eishockey spielt – was für den heutigen Einsatz eindeutig der entscheidendere Kompetenznachweis ist. Denn die Bugsau muß vor allem die Konkurrenz im Nahkampf zupackend aus dem Weg räumen.

Das erste Getümmel nach dem Start überstehen wir unbeschadet. Wir gleiten stromabwärts, lassen die Insel steuerbords liegen. Doch dann geraten wir zu nah ans Ufer, das Tempo stockt, wir wühlen uns unter den Sträuchern hervor. Ein Blick nach hinten: kein Kahn mehr zu sehen – wir sind die letzten! Bleibt es bei dieser Position, muß jeder von uns laut Reglement je einen halben Liter Lebertran trinken, zur Gaudi der Masse, die skandiert: „Wir trinken Bier, was trinkt ihr?!“

Die nächste Herausforderung aber ist das sogenannte Nadelöhr, die nur vier Meter schmale Stelle zwischen dem Ende der Neckarinsel und dem Mittelpfeiler der Eberhardsbrücke. Da muß jeder Kahn durch, gleich zweimal – vor und nach der Umrundung des Pfeilers. Hier geht es zu wie im Hexenkessel. Kähne haben sich verkeilt, keine Mannschaft will nachgeben. Es wird geschoben, gerangelt, gebrüllt. Die Grenze von Spaß zu Ernst verfließt. Das Publikum johlt. Jetzt bloß nicht den Arm zwischen zwei Bordwänden einquetschen, bloß keine Stange abbekommen.

„Der Kahn bricht!“, brüllt einer vor mir. Tatsächlich knarzt es auf einmal gewaltig, Holz splittert, wir stemmen uns mit aller Kraft gegen den Betonpfeiler, der Kahn neigt sich gefährlich. Plötzlich flutschen wir wie durch ein Wunder weiter, bekommen einigermaßen die Kurve und fahren unter der Brücke durch. Die zweite Passage durchs Nadelöhr gelingt dann ohne größere Probleme.

Stromaufwärts überholen wir sogar den einen oder anderen Gegner. Aber es wird anstrengender, der Arm erlahmt, die Knie schmerzen, die Hose hat sich mit Brackwasser vollgesogen. Endlich passieren wir die Ziellinie, halten das völlig aufgeweichte Papier mit unserer Startnummer hoch, um registriert zu werden. Geschafft! Am Ende belegen wir einen Platz im Mittelfeld. Gesiegt hat (wieder einmal) der Kahn der Sportstudenten, den Lebertran muß die Mannschaft einer katholischen Verbindung trinken.

Foto: Einem winkt der Siegerkranz: Lahme Arme, schmerzende Knie, nasse Klamotten, aber glücklich ans Ziel gestochert

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