© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/13 / 07. Juni 2013

Der Flaneur
Aufs Rad, raus ins Freie
Sebastian Hennig

Eine Ärztin im Ruhestand hat in das Hochparterre ihrer Gründerzeitvilla geladen zum literarisch-musikalischen Abend. Versammelt hat sich ein Völkchen kultivierter Ruheständler, autochthone Stützen der Gesellschaft. An den Wänden triumphieren oberflächliche Kreativität, Farbgewitter und figürliche Expression, überhitzte Ölfarben und kalte Nadel. Irgendwo steht noch ein Glasschrank mit Medikamenten und Untersuchungsbesteck. Zwischen die vier Sätze einer Violinsonate von Brahms werden feuilletonistische Erzählungen aus dem Leben des Komponisten geschoben. Alles sehr sympathisch – macht aber apathisch.

Der Nachmittag zeigte sich verregnet. Nun glitzern die Tropfen auf den Blättern in der scheidenden Sonne im Fensterblick über dem Flügel und dem Pianisten. Zu Häupten des Publikums hängen gläserne Pinienzapfen von der braunen Holzdecke. Selbst die Musik flüstert: Komm ins Freie.

In der Pause hält mich nichts mehr. Aufs Rad, und flugs geht es durch das duftende und funkelnde Spalier bergab ins Flußtal. Der Himmel ist aufgeklart. Die Abendsonne verklärt die Industriebrachen entlang des Bahnhofsgeländes. Das silberne akkurate Band der kanalisierten Weißeritz ist von den Kandelabern weiß und rot blühender Kastanien umstanden. Das peitschende Schnalzen der Nachtigallen ergänzt das anhaltende Rauschen der Automobile. Die Sängerinnen der Nacht hocken längs des Wegs in den regennassen Büschen. Statt Kammermusik gibt es die große Sinfonik des Lebens, Vokalkonzert, Vogelhochzeit. Statt Künstlerroman das ewige Drama von Werden und Vergehen. Morgen wird sich über dem dunstigen Strom ein neuer Tag erheben.

Wo ich fahre, ist nebenher alles trassiert und eingeteilt für ein künftiges Gewerbegebiet. Doch schon deckt wieder Wildwuchs die Fläche, und statt eines Gewerbegebiets ist hier ein Werbungsgebiet für Fuchs und Fasan. Auf den rosaroten Formsteinen des Radwegs hingeklatscht eine umbra-braune Garnitur Pferdeäpfel. Wer vermag Roß und Reiter zu benennen?

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