© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/13 / 14. Juni 2013

Augen zu und durch
Türkei: Selbst in seiner eigenen Partei wird Erdoğans unnachgiebige Haltung kritisiert
Günther Deschner

Seit seinem Amtsantritt vor elf Jahren hat Recep Tayyip Erdoğan die Türkei modernisiert, hat sie im Eiltempo ins 21. Jahrhundert geführt. Er entmachtete das Militär, schaffte die Todesstrafe ab und fand jüngst sogar einen Weg, den jahrzehntelangen Konflikt mit der großen kurdischen Minderheit zu entschärfen.

Seine Anhänger verweisen auf seine Erfolge, vor allem seine dynamische Wirtschaftspolitik und die Förderung des lang vernachlässigten Anatolien. Den kleinen Leuten geht es besser als früher, ihr Durchschnittseinkommen hat sich verdreifacht. Sie haben Erdoğans religiös-konservative Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) Ende 2002 an die Macht gebracht, und 2011 zum drittenmal in Folge bestätigt.

Doch nach der Wahl 2011 ließ der Premier seinem schon früher zutage getretenen Hang zu einsamen Entschlüssen, zu Intoleranz und Rechthaberei freien Lauf. Immer mehr versuchte er, sich auch in die persönliche Lebensführung der Bürger einzumischen, gab Empfehlungen zur Kinderzahl, erklärte jeden, der mal ein Bier trinkt, quasi zum Alkoholiker oder gab den Stewardessen der Turkish Airlines Anweisungen zum Thema Lippenstift.

Seine oft als Intoleranz und Arroganz empfundene Art geht vielen Bürgern zu weit. Von „Anmaßung“ und „Einengung persönlicher Freiheiten“ wird gesprochen, sogar von „Diktatur“ – auch im eigenen Lager.

Mit seinem zu langen Zögern, Sprecher der Demonstranten vom Istanbuler Gezi-Park wenigstens anzuhören, und seinen als ausfällig und „arrogant“ empfundenen Worten hat der Regierungschef viel Vertrauenskapital verspielt. Er hat somit selbst dazu beigetragen, daß aus einem „Sit-in“ gegen die Entwurzelung von Bäumen eine Revolte gegen ihn und den Staat geworden ist.

Besser hätte Erdoğan seine Unbeweglichkeit kaum zeigen können als mit seinem jüngsten Vorschlag zur Bebauung des zum Symbol gewordenen kleinen Gezi-Parks im Herzen von Istanbul: Wenn „die Leute dort kein Einkaufszentrum“ wollten, werde er „eben eine Moschee bauen lassen“, sagte er in den Schlachtenlärm hinein. Er brauche dafür keine Erlaubnis. Sein Lob für den Einsatz der Sicherheitskräfte nach der brutalen Räumung des Taksim-Platzes in Istanbul Mitte der Woche tat ein übriges.

Dabei möchte er das Land 2014 zur Präsidialdemokratie machen und mit der dazu erforderlichen Zweidrittelmehrheit zum Präsidenten gewählt werden. Vertraute sagen, er höre nicht mehr auf Berater. Immer lauter wird auch über Vetternwirtschaft und Korruption gemunkelt. Mit seiner Haltung in Sachen Gezi-Park trieb der Premier den Keil noch tiefer in die Gesellschaft – und das Protestlager, das aus religiösen und säkularen Gruppen sowie linksextremistischen Kleingruppen besteht, schweißt er zusammen.

Selbst in der Regierungspartei geht bei einigen die Sorge um, daß hier etwas aus dem Ruder läuft. Daß etwas entsteht, was auch fatale Folgen für die Machtbalance der türkischen Politik und die Macht der AKP entwickeln kann.

Nach einer von der britischen „Denkfabrik“ Chatham House in Auftrag gegebenen Umfrage handelt es sich bei der Protestbewegung um zumeist junge Leute, von denen viele zum erstenmal in ihrem Leben an einer Demo teilgenommen haben: Zwei Drittel der Demonstranten seien demnach jünger als 31 Jahre, 53 Prozent machten erstmals bei Kundgebungen mit, nur 15 Prozent haben parteipolitische Affinitäten. Neun von zehn Demonstranten gaben an, wegen Erdoğans autoritärem Regierungsstil auf die Straße gegangen zu sein.

Der Gezi-Park von Istanbul, wo die inzwischen über das ganze Land schwappende Protestwelle begann, dürfte inzwischen zum Symbol dieser Generation geworden sein.

Damit wird der Graben zwischen dem 59jährigen Regierungsschef und den mehrheitlich jungen Demonstranten breiter, die nach Ansicht von Beobachtern die Türkei durch eine Stärkung der Zivilgesellschaft verändern. In Anbetracht der signifikanten demographisch bedingten „Verjüngung“ der türkischen Bevölkerung sind das keine guten Aussichten für die 2014 anstehenden Wahlgänge in der Türkei – die Verfassungsänderung in Richtung eines Präsidialsystems nach US-Vorbild, die direkte Präsidentenwahl und die Kommunalwahlen.

Die Kritik am Regierungschef aus den eigenen Reihen kommt zwar noch leise daher. Aber der ein oder andere wird schon deutlich: „Wir haben in nur fünf Tagen etwas geschafft, was der Opposition nicht mal in Jahren gelungen wäre. Wir haben es hingekriegt, daß sehr unterschiedliche Gruppen, Fraktionen und Segmente zusammengekommen und im Kampfgetümmel Kameraden geworden sind, die sich unter normalen Bedingungen nicht mal gegrüßt hätten.“

„Diese Worte“, so enthüllte die Tageszeitung Hürriyet spöttisch, „stammen von unserem Erziehungsminister Nabi Avcı: Seine bittere Erklärung zeigt die große Besorgnis über die möglichen Konsequenzen der Gezi-Park-Proteste für die Politik.“

Nicht nur Erziehungsminister Nabi Avci, auch andere türkische Regierungspolitiker distanzierten sich mittlerweile laut oder leise von Erdoğans unnachgiebiger Haltung. Neben Vizepremier Arinç, Staatspräsident Gül und Parlamentspräsident Çiçek erklärte auch Ali Babacan, der Staatsminister für Wirtschaft, man müsse „dem Volk besser zuhören“.

Foto: Präsident Erdoğan läßt sich feiern: Während einige Kilometer entfernt der Volkszorn kocht, spielt man am Istanbuler Flughafen heile Welt

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