© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/13 / 14. Juni 2013

Mit erhobenem Zeigefinger
Nachruf: Zum Tode von Walter Jens
Thorsten Hinz

Walter Jens lebte schon lange in einer eigenen Welt, wo ihn die Stimmen aus der anderen Welt nicht mehr erreichten. Das rapide Nachlassen seiner geistigen Kräfte muß für ihn, der nicht nur mit, sondern auch in der Literatur und Wissenschaft lebte, eine Qual gewesen sein. Das Bildnis Theodor Fontanes kam ihm noch bekannt vor, aber irgendwann konnte er es nicht mehr identifizieren. Die Demenz, verbreitete sich sein geschäftstüchtiger Sohn Tilman, sei die Reaktion des Vaters darauf, daß er seine nationalsozialistischen Verstrickungen verdrängt habe.

Jens’ Markenzeichen war der erhobene Zeigefinger. Deshalb wurde es nichts Richtiges mit der Literatur. Erfolgreicher war er als Literaturwissenschaftler, Rhetorikprofessor und Altphilologe. Wirklichen Ruhm erlangte er als einer der Starkritiker der Gruppe 47. Hier wurde sein Zeigefinger zum Zepter der Herrschaft. Walter Jens entschied mit darüber, wer in die Ruhmeshalle der bundesdeutschen Literatur einging und wer nicht.

Jens identifizierte sich mit der Rolle des kritischen Linksintellektuellen, der den Mächtigen furchtlos die Leviten las. Geschmeichelt registrierte er, daß man ihn einen neuen Voltaire nannte. Hier kannte er weder Ironie noch Selbstironie. Das Selbstgewisse seiner Haltung, die in Mimik und Gestik ablesbare Überzeugung, zum Mahner und Wächter berufen und eine wandelnde moralische Instanz zu sein, zwingt seinen Kritikern heute nur noch ein Lächeln ab. Wie schwach waren in Wahrheit die Gewalten, gegen die er aufbegehrte! Wieviel rhetorischer Aufwand und wie wenig Erkenntnis in seinen Reden! Eine Seite von Arnold Gehlen ist gehaltvoller als hundert Seiten Jensscher Gesellschaftskritik. Der kämpferische Republikaner schrumpft im Rückblick zum tapferen Schneiderlein, der den Weg in die marktkonforme Demokratie mitbereitet hat.

Die Nachricht von der Karteikarte, die Jens’ Mitgliedschaft in der NSDAP beweisen sollte, traf ihn in der Anfangsphase seines Verdämmerns. Ob sie, wie er meinte, lediglich auf die summarische Übernahme seines Jahrgangs zurückgeht, ist nicht vollständig geklärt. Der Historiker Ernst Nolte, der mit ihm 1944 in Freiburg studierte, erinnert sich, daß Jens keinesfalls ein NS-Anhänger war. Seine heimliche Sympathie habe vielmehr dem inhaftierten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann gegolten, der wie er aus Hamburg stammte.

Vergangenen Sonntag nun ist Walter Jens 90jährig gestorben.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen