© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/13 / 21. Juni 2013

Patriotismus ohne Herz
17. Juni: Gedenken der Politiker an den Volksaufstand erscheint als Pflichtübung
Thorsten Brückner

Der kräftige, weißhaarige Mann stützt sich auf seinen Stock, als er am vorderen Ende der Stuhlreihe seinen Platz einnimmt. Um die Gedenkstätte zu sehen, an der zahlreiche Parteien und Organisationen Kränze zum Gedenken an den Volksaufstand des 17. Juni 1953 niedergelegt haben, hätte er ein Fernglas gebraucht. Schon eine Stunde vor Beginn der Gedenkveranstaltung am Montag auf dem Friedhof Seestraße im Berliner Stadtteil Wedding hatte sich der erste Zeitzeuge in der prallen Sonne eingefunden.

Doch allzu nahe wollte man die Zeitzeugen offenbar nicht dabei haben, die hinter einer Absperrung mit Sicherheitsabstand das Geschehen verfolgen mußten. Immerhin acht Teilnehmer des Aufstandes durften auf einer Bank gegenüber den Gedenksteinen für die Getöteten Platz nehmen und im Anschluß an die Zeremonie den Würdenträgern des Staates, allen voran dem Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin, die Hand schütteln. Später beklagte sich einer von ihnen im persönlichen Gespräch mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. Vor zehn Jahren, zum 50. Jahrestag, sei alles noch viel besser organisiert gewesen. „In diesem Jahr haben wir erst 14 Tage davor die Einladung bekommen“, sagte der Mann.

In seiner Rede erinnerte Berlins Regierender Bürgermeister an die mehr als 50 Toten des 17. Juni 1953, die „von ihren elementaren Menschenrechten Gebrauch machten“ und dabei ihr Leben ließen. DDR-weit waren damals über eine Million Menschen auf die Straße gegangen. Richteten sich die Proteste anfangs vor allem gegen eine Erhöhung der Arbeitsnormen, wurde unter den Aufständischen schnell der Ruf nach freien Wahlen, dem Rücktritt der SED-Führung und der Wiedervereinigung Deutschlands laut. Von den rund 1.600 DDR-Bürgern, die infolge des Aufstands verurteilt wurden, erlitten zahlreiche in der Haft schwere psychische Schäden. Manche starben noch Jahre danach an den Folgen und finden sich in keiner Statistik. Wie später auch Bundeskanzlerin Angela Merkel reihte Wowereit den Aufstand in die lange Liste der Freiheitsbewegungen in Mittel- und Osteuropa ein, die schließlich den Boden für die friedliche Revolution im November 1989 bereitet hätten. „Wir haben eine gemeinsame Verantwortung vor der Geschichte, die Erinnerung an den Volksaufstand wachzuhalten“, redete er den Zuhörern ins Gewissen. Vor dem Mahnmal für die Getöteten, von denen viele noch nicht einmal volljährig waren, als die sowjetische Besatzungsmacht die Erhebung gewaltsam niederschlug, schloß Wowereit seine Rede mit deutlichen Worten.

„Wir verneigen uns vor den mutigen Frauen und Männern des 17. Juni 1953.“ Der Regierende Bürgermeister erinnerte die Besucher zudem daran, daß es seit vergangenem Sonntag in der Bundeshauptstadt neben der Straße des 17. Juni am Brandenburger Tor auch einen Platz gibt, der an den Volksaufstand in der DDR erinnert. Das Areal vor dem Finanzministerium, einst Sitz vieler DDR-Ministerien, war einer der Kristallisationspunkte der Proteste in Berlin.

Merkel ging in ihrer Rede scharf mit dem politischen System des SED-Staates ins Gericht. „Am 17. Juni 1953 war die DDR noch nicht einmal vier Jahre alt und doch war sie bereits politisch am Ende. Dieser Tag sollte zeigen, daß sich das System nur mit Gewalt und Unterdrückung aufrechterhalten ließ“, sagte sie. Die Mär vom Arbeiter- und Bauernstaat sei somit „von Anfang an als politische Farce entlarvt worden“.

Die Kanzlerin verwies auf die totalitäre Gesellschaftspolitik des SED-Regimes. Dabei nannte sie die Zerschlagung aller alternativen Denkräume, „auch und besonders in den Kirchen“, die Verstaatlichung von Unternehmen und die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Der 17. Juni, so Merkel, zeige deutlich, daß staatliches Handeln stets seine Legitimität durch die Bürger erfahren müsse. Die Schlüsse, die sie am Ende ihres Vortrags aus der Erhebung für die Aufgabe des Staates heute zog, sorgten dann aber bei manchem Teilnehmer für Stirnrunzeln. Politiker seien dazu da, das Wohl aller zu mehren. Das Wohl von „Menschen mit und ohne Arbeit, Menschen mit und ohne Behinderung, Menschen mit und ohne ausländische Wurzeln: Wir sind, wie wir 1989 gerufen haben, ein Volk!“

Auch bei der abschließenden Nationalhymne, die vom Orchester der Bundespolizei intoniert wurde, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der patriotische Tonfall in Merkels Rede keiner Herzenshaltung entsprang. Während die Veteranen des 17. Juni inbrünstig und für alle Teilnehmer hörbar mitsangen, manche gar ihre rechte Hand aufs Herz legten, bewegten die Würdenträger des Staates unmotiviert ihre Lippen. Überraschend war allenfalls, daß die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linkspartei) die Hymne auf das deutsche Vaterland mitsang.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen