© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/13 / 21. Juni 2013

Pankraz,
MERS-CoV und der Tod aus der Wüste

Erinnert sich noch jemand an die Ehec-Epidemie, die vor zwei Jahren, Mai/Juni 2011, unser Land erschütterte? Vor allem Babys und Kleinkinder erkrankten damals an schwersten Darminfektionen, es gab Tote, als Ursache wurde der Genuß von virenbefallenem rohen Gemüse ermittelt, man warnte vor Tomaten, Gurken, Salaten. Schließlich kam heraus, daß aus Ägypten importierte Sprossen die eigentlichen Verantwortlichen waren. Man unterband die Importe, der Schrecken legte sich wieder – zu früh, würde Pankraz urteilen.

Heute, im Juni 2013, tritt wiederum ein möglicherweise Seuchen verursachender Virus aus dem Nahen Osten hervor, der Coronavirus MERS (Middle East Respiratory Syndrome), der seine Opfer freilich (vorläufig) nur in arabischen Ländern findet – deshalb wohl die merkwürdige Gleichgültigkeit, die die hiesige Öffentlichkeit dem Phänomen bisher erwiesen hat. Die Zahl der Toten im syrischen Bürgerkrieg liegt ja viel, viel höher als die Zahl der neuartigen MERS-Toten. Aber genau das könnte sich schnell ändern.

Kein Mediziner wagt eine Prognose, aber einige professionelle „Trendforscher“ sprechen immerhin schon vom Beginn einer ausgewachsenen Epidemie. Der MERS-CoV bewirkt komplizierte, hochdramatische Behinderungen der Atemwege, Lungenentzündung, totales Nierenversagen. Sämtliche bisherigen Erkrankungen verliefen (beziehungsweise verlaufen) schwer und meistens tödlich. Und es gibt weder verläßliche Diagnosen noch gar Therapien. Der MERS-Virus hat die Medizin regelrecht bei Nacht und Nebel überfallen, sie muß sich erst mühsam auf den neuen Feind einstellen.

Faktisch noch nichts weiß man darüber, ob und wie sich der neue Virus von Mensch zu Mensch überträgt oder ob wir Menschen – wie bekanntlich oft auch in anderen Fällen – nur eine Durchgangs- und Parkstation für den Virus abgeben, er uns also gleichsam im Vorbeigehen krank macht. Nicht zuletzt von der Klärung dieses Sachverhalts hängt ab, wie sich sichere Strategien gegen den MERS-CoV entwickeln lassen. Doch im Augenblick hat die hiesige Wissenschaft noch nicht einmal eine offiziell eingedeutschte Bezeichnung, weder für den neuen Virus noch für die Krankheit.

Was sind Viren überhaupt? Sie verfügen über Selbstbewegung und Selbstvermehrung, haben aber keinen eigenen Stoffwechsel, so daß viele Forscher sie als „Halblebewesen“ oder „Teillebewesen“ bezeichnen. Das bedeutet allerdings nicht, daß sie eine Frühform des Lebens wären, geschweige denn die Inkarnation seines Ursprungs. Denn sie brauchen das Plasma wirklicher Lebewesen, um existieren und sich vermehren zu können. Das Leben muß also schon vor ihnen dagewesen sein.

Das unheimliche Programm, das ihnen innewohnt, ist gänzlich auf Zerstörung des Kern-eiweißes der lebendigen Körperzellen angelegt. Es erzwingt geradezu dessen Mutation, nämlich das Sich-Einstellen auf die Anwesenheit von Viren, welche aber nur Verderben und nichts als Verderben bringen. Nur wer dieses Zwingprogramm der Viren durchschauen könnte, wäre imstande, uns wirksam vor ihnen zu schützen. Doch davon sind wir weit entfernt.

Viren sind wie Vampire. Sie selbst leben nicht, und ihr einziges Trachten ist, Leben zu zerstören. Ist ein Organismus, etwa ein einzelliges Bakterium, einmal von ihnen befallen, so wird dessen Körperplasma in kürzester Zeit total umgestaltet, faktisch in immer neue Viren verwandelt. Es „entartet“, wie die Biologen sagen. Beim Bakterium führt das zum schnellen Tod, bei Menschen, Tieren und Pflanzen zumindest zu langwierigen, lebensgefährlichen Krankheiten, wie eben jetzt beim Angriff der MERS-Viren.

Alle einschlägigen Untersuchungen belegen, daß der Coronavirus MERS-CoV aus Saudi-Arabien stammt und von dort seinen Ausgang nahm. Nachgewiesen wurde er inzwischen in Jordanien, in Katar und im kampfdurchtosten Syrien, aber in einigen wenigen Einzelfällen auch in England, Frankreich und Deutschland. Die Patienten außerhalb Saudi-Arabiens hatten alle entweder das Land zuvor besucht oder Kontakt mit Menschen gehabt, die eine Reise in die Region unternommen hatten.

Aus den medizinischen Laboratorien dringt inzwischen die Kunde, daß MERS-CoV eine verblüffende Ähnlichkeit mit jenem Virus hat, der 1918 in Europa und den USA die sogenannte Spanische Grippe auslöste, was ohne Zweifel ein Grund zu echter Sorge ist. Denn an der Spanischen Grippe starben seinerzeit mehr Menschen, als im ganzen, soeben beendeten Ersten Weltkrieg zu Tode gekommen waren.

Man hat seitdem viel dazugelernt, hat insbesondere ein sorgfältiges, den ganzen Globus umspannendes Beobachtungsnetz geknüpft, das die Wanderschaft neuartiger Viren gut zu registrieren vermag. Seuchen durch Virusinfektion à la MERS-CoV sind wohl nach wie vor ein unabwendbares Schicksal, doch ihre Einhegung und Abmilderung haben große Fortschritte gemacht. Pandemien mit Tausenden, gar Millionen von Toten sind heute sehr unwahrscheinlich, selbst in Ländern mit schlecht entwickelter Infrastruktur und unzureichenden Hygienestandards.

Zur Panik gibt es also keinen Grund, durchaus aber zu Kritik und vermehrter öffentlicher Aufmerksamkeit. Speziell in Wüsten oder auf den Wüsten abgerungenen Ackerböden, so wäre zu lernen, erscheinen aus irgendwelchen Gründen bevorzugt neuartige Viren und beginnen dort ihren Unheilslauf. Wüsten bieten offenbar nicht nur günstige Bedingungen für religiöse Leidenschaften, die schnell in Terror und in das Knattern von Kalaschnikows einmünden können, sondern auch für biologische Todestriebe in Gestalt von Viren. Diese verdienen nicht weniger Aufmerksamkeit als Stammes- und Religionskriege.

Als „Willensquanten des Todes“ werden Viren wie MERS-CoV hier und da apostrophiert. Doch Genaues weiß man eben nicht. Eine neue Quantenmechanik wäre zu entwickeln, eine Quantenmechanik des Todes. Oder besser: eine Quantenmechanik des sicheren Überlebens.

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