© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/13 / 21. Juni 2013

Wir entblößen uns freiwillig
Netzwerke: In der digitalen Welt geben wir jede Nichtigkeit, aber auch bereitwillig Intimes preis
Heino Bosselmann

Michelle ist verdammt schnell. Gerade hat sie über den Badezimmerspiegel mittels Smartphone ein neues Profilbild geschossen und beinahe zeitgleich hochgeladen, wegen Steve ihren Beziehungsstatus aktualisiert, ihrer Hochstimmung gemäß auf einen neuen Titel von „The Black Pony“ per Youtube verwiesen, drei coole Typen vom vergangenen Wochenende „geaddet“, dann gepostet, daß Jürgen mit neuem Piercing ja wohl unmöglich aussieht, und schließlich, daß sie dem Pizza-Service „Rimini-Expreß“ den entscheidenden Vorzug gibt. Super! Das alles weiß jetzt die Welt. Michelle teilt es mit, ohne daß sie jemand dazu zwingt. Gläserner Mensch? Michelle möchte durchschaubar sein. Na klar. Gern sogar.

Man könnte Facebook wohlwollend als eine Agora 2.0 ansehen, als den gemeinsamen Marktplatz von Mega-Metropolis, wo man sich virtuell präsentiert, begegnet, bespricht, verliebt und verflucht, wo man den Marktschreiern zuhört und wo sich ab und an gar ein Sokrates einstellen mag, dessen Beiträge endlich ein Publikum finden. Facebook als Akt der großen Demokratisierung. Hier scheinen alle gleich und auf Augenhöhe gebracht, Individuen wie Medien und Firmen. Innerhalb der Netzwerke, heißt es, gibt es grundsätzlich keine Zensur. Die Leute sollen bitte Vertrauen haben und sich öffnen.

Offenbar kommen immer weniger ohne diese Schaltstelle individueller oder kommerzieller Eigenwerbung aus. Die Netzwerke bedienen ein Bedürfnis nach Selbstdarstellung. Sie müssen es nicht erst wecken, sondern holen die Menschen wirklich dort ab, wo sie stehen und gesehen werden wollen. In der analogen Welt läßt man sich Zeit, ist bisweilen scheu und einigermaßen kultiviert; in der digitalen aber lädt man in Sekunden zutraulich immense Datenmengen von sich auf fremde Speicher.

Facebook ist und bleibt umsonst, steht über dem Eingang in die Registratur. Wo aber gibt es schon etwas umsonst? Zum einen agiert Facebook selbst als riesiger Marketing-Unternehmer, zum anderen handeln die Kunden – selbst werbend, Seiten und Produkte bewertend und empfehlend, Hinweise weiterschaltend und Lifestyle-Themen fortspinnend. Ihre Myriaden Klicks und „Likes“ sind zu Datensätzen komprimierbar und für Akquisen nutzbar. Ja, man selbst wird als Objekt von Interessen unweigerlich ebenso dazu. Facebook folgt ökonomischen Gesetzen. Es muß wachsen, um für Werbeeinnahmen und all die Händler attraktiv zu sein, also braucht es immer mehr Teilnehmer.

Die empfundene Distanz zwischen den Endgeräten spielt für die alle Inputs verlastenden Server keine Rolle. Sie speichern mit mathematischer Zuverlässigkeit alles, woraus Profile nicht nur für zielgerichtete Werbung erstellt werden können. Technisch jederzeit abrufbar durch alle, die sich – legal oder illegal – den Schlüssel zu dieser vermutlich weltgrößten Sammlung verdateter Menschen zu verschaffen wissen.

Müßig, es den Nutzern vorzuwerfen, daß sie zum einen jede Nichtigkeit in die Welt stellen, zum anderen bereitwillig Intimes preisgeben, was, wie Kritiker es polemisch ausdrücken, früher erst aus ihnen hätte herausgefoltert werden müssen. Wähnen sich die Menschen sicher, erzählen sie alles, ja entblößen ihre Persönlichkeit. Sie sind im Netz zwar verbunden, aber nicht persönlich konfrontiert. Wer kaum überblickt, wieviel „Freunde“ er auf seine Seite holte, dem sind all die mittelbaren Nutznießer der Informationen – meist ohnehin nur Algorithmen folgende Programme – völlig einerlei. Dem sozialen Netzwerk fehlt eigentlich – das Soziale.

Die Nutzer sind gefangen in der Illusion, ihre Nachrichten nur technisch weiterzugeben. Etwa so, wie früher über ein Telefon. Von einem Telefon jedoch, das sich alles merkt und nie vergißt, träumen die Geheimdienste der Welt ebenso wie die Datenbeschaffer der Firmen. Zumal das Publikum bereitwillig damit einverstanden ist, daß alles, was es sendet, als „open source“ zur Verfügung steht. Wer in seiner abgeschlossen Wohnung eine Tastatur bedient oder die Facebook-App des Handys nutzt, hat den Eindruck, ganz bei sich zu sein, dabei befindet er sich im Fokus vieler Teilnehmer und wird abgescannt. Die natürliche Evolution hat für die Anwesenheit von Big Brother kein Sensorium entwickeln müssen.

Gerade für die Einsamen, die sich unverstanden und abgehängt Fühlenden mag gelten: Wovon das Herz voll ist, davon gehen die „Status-Meldungen“ über. Wann gab es je einen so gewaltigen Artikulationsraum, in den man seine Botschaften hineinrufen und seine Sehnsüchte projizieren kann – in der Hoffnung, gehört und anerkannt zu werden? Für viele ist Facebook der Gesprächspartner, der nie schläft, der geduldige Beichtvater, der immer zuhört, die große Hoffnung auf einen Menschen irgendwo, der einen versteht. Schon nach dem Gesetz der großen Zahl müßte es ihn ja irgendwo geben. Vor allem aber gibt es: die große Zahl.

Weil die liberalisierte und zusammengeschaltete Welt nicht nur freigeistig, sondern bis zur Erschöpfung Markt geworden ist, trifft alles Vermeldete auf Verwertungsinteressen. Sicher, Werbungsinteressen und Wirtschaft sind kein Teufelswerk, sondern Ausdrucksformen einer freiheitlichen Gesellschaft. Nur kann man diese ohne Manipulationen potentieller Käufer nicht denken. Sich demgegenüber zu verhalten, dazu bedarf es Reife und Urteilskraft. Diese auszubilden, dafür ist Facebook nun gerade nicht der Ort, obwohl Heranwachsende hier mehr Zeit zubringen dürften als in der Bibliothek oder auf dem Bolzplatz.

Und wer, würde er an der Haustür aufgefordert, lieferte bereitwillig irgend jemandem seine Daten aus? Fragte man skeptisch nach, würde geantwortet: Sie interessieren mich eben. Aus welchem Grund, das sollte ihnen bitte egal sein. Für Facebook ist diese Auslieferung Eingangsbedingung: Ihr, die ihr eintretet, gebet alles preis!

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