© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/13 / 21. Juni 2013

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Die reflexhafte Kritik an der Regierung Erdoğan und ihren Maßnahmen und die reflexhafte Solidarisierung mit den Besetzern des Taksim-Platzes in den Medien hat nichts mit Analyse zu tun, sondern mit den tiefeingewurzelten Ressentiments westlicher Eliten gegenüber einem konservativen Regime. Geschichtsvergessenheit kommt natürlich auch dazu, das heißt eine Erinnerungslücke in bezug auf die bürgerkriegsartigen Zustände im Land während der 1970er und 1980er Jahre, für die die politische Linke erhebliche Verantwortung trug.

Wenn man die Diskussion über das mögliche Schicksal der afghanischen Bundeswehrhelfer nach einem Abzug der deutschen Truppen verfolgt, wird man an das Menetekel der Harki-Massaker nach der Aufgabe Französisch-Algeriens erinnert, und hat Verständnis. Was allerdings stört, ist die Tatsache, daß diejenigen, die für die Aufnahme der Afghanen in Deutschland oder umfassende Unterstützungsmaßnahmen sprechen, regelmäßig darauf beharren, daß der Einsatz am Hindukusch sinnvoll war, obwohl es trotz jahrelanger Bemühungen nicht einmal möglich gewesen ist, ein gewisses Maß an Rechtssicherheit aufzubauen, geschweige denn eine Ordnung zu schaffen, die unseren Interessen dienlich wäre.

Die Debatte über die wachsende Zahl der Kinder, denen man Psychopharmaka verabreicht, und die über die Neufassung des DSM – Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders –, des Handbuchs psychischer Störungen, gehören inhaltlich zusammen. Allerdings fehlt immer der Hinweis darauf, daß die Entgrenzung des Krankheitsbegriffs kein isoliertes Phänomen ist, sondern ein Dekadenzsymptom und im Fall der Heranwachsenden zu tun hat mit einer Erziehungsverweigerung von Elternhaus, Kindergarten und Schule, deren Folgen durch die Verabreichung von Medikamenten korrigiert werden sollen.

Man könnte die Konsensfixierung der Deutschen viel besser ertragen, wenn sie sich nicht wahllos auf jeden Inhalt bezöge.

Bildungsbericht in loser Folge XL: „Das Gymnasium als Massenschule hat folgenden Nachteil: Die meisten Gymnasiasten sind nur mittelmäßig begabt und intellektuell nicht ganz auf der Höhe. Das ergibt sich zwangsläufig aus der Normalverteilung der Intelligenz. Sie können nicht so gut logisch denken oder sich in abstrakte Themen einarbeiten. Statt dessen sollen die Gymnasiasten nun irgendwelche Berufspraktika machen. Da pervertiert sich das deutsche Schulsystem wieder einmal selbst.“ (Elsbeth Stern, Lernforscherin, in einem Interview mit dem Spiegel)

Wenn man eine Vorstellung gewinnen will, auf welches Niveau die Einlassungen zur Zeitgeschichte sinken können, muß man nur einen Blick auf das werfen, was der Welt-Redakteur Sven Felix Kellerhoff regelmäßig äußert. Kürzlich hat er sich der Frage zugewendet, warum eigentlich Stalin – anders als Hitler – seine Beute aus dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 behalten durfte und zum geschätzten Bündnispartner der USA und Großbritanniens aufstieg: „Hitler hatte seine absolute Unberechenbarkeit und völlige Vertragsuntreue wiederholt unter Beweis gestellt. Stalin dagegen war zwar aggressiv und grausam – aber doch immerhin berechenbar.“ Das ist eine Argumentation, die vielleicht in brav-bürgerlichen Kreisen der alten Bundesrepublik Kopfnicken ausgelöst hat, aber mittlerweile müßte bei solcher Art historischer Bilanzierung das Textprogramm streiken.

Der Papst beklagt neben der Korruption im Vatikan die Einflußnahme „homosexueller Seilschaften“; Rußland verbietet jede Propaganda für homosexuelle Lebensweisen; in Israel ist ein Mann festgenommen worden, der im Sommer 2009 ein Schwulenzentrum angegriffen hatte, ein Racheakt, weil ein prominentes Mitglied der Szene einen seiner Verwandten vergewaltigt haben soll. – Unter allen existentiellen Gegensätzen, die politisch werden können, hätte Carl Schmitt den zwischen Homosexuellen und Heterosexuellen kaum vermutet.

Gründe, die „Alternative für Deutschland“ zu wählen: Es gibt da keine Frauen-, Migranten- oder sonstige Quote, und Mitglieder, die Kandidaten die Zustimmung verweigern, weil sie das Wort „Nachhaltigkeit“ in den Mund nehmen.

Wenn jetzt auch Francis Fukuyama von „Plutokratie“ spricht, ist der Begriff wohl retabliert. Daß die Nationalsozialisten sich seiner bedienten, konnte seiner Treffsicherheit auf die Dauer nichts anhaben: Plutokratie, Herrschaft mittels Reichtum, wahrscheinliche politische Verfallsform der Demokratie, worauf die klügeren Köpfe des 19. Jahrhunderts schon hingewiesen hatten, Tocqueville natürlich in bezug auf die Vereinigten Staaten, abgeleitet von Plutos, dem griechischen Gott des Geldes, oft gleichgesetzt mit Pluton, dem römischen Gott des Todes.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 5. Juli in der JF-Ausgabe 28/13.

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