© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/13 / 21. Juni 2013

Schnüffelei unter alliiertem Vorbehalt
Der Historiker Josef Foschepoth über die massiven Verstöße gegen das Post- und Fernmeldegeheimnis in der Bundesrepublik
Lydia Conrad

Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung und dem Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages, der Deutschland angeblich die „volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten“ zubilligt (so der Wortlaut des Artikels 7 des „Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“), stellt sich nach wie vor die Frage: Wie souverän ist die heutige Bundesrepublik wirklich?

Eine ebenso aufschlußreiche wie ernüchternde Antwort hierauf gibt der Freiburger Zeithistoriker Josef Foschepoth, der als erster Historiker die Möglichkeit hatte, bisher geheimgehaltene Unterlagen der Bundesregierung auszuwerten. Zweck seiner Recherchen war dabei, Art und Ausmaß der Post- und Telefonüberwachung zwischen 1949 und 1989 zu erforschen.

Dabei förderte Foschepoth bemerkenswerte Details zutage: Wer hätte wohl gedacht, daß allein im Zeitraum von 1951 bis 1972 um die 115 Millionen Sendungen aus dem Postverkehr der Bundesrepublik herausgezogen und geöffnet wurden, wonach 90 Millionen Poststücke der Vernichtung anheimfielen? Wer hätte sich träumen lassen, daß schon in den fünfziger Jahren fünf Millionen Telefonate pro Jahr abgehört wurden? Doch das ist nicht der eigentliche Clou an der Sache. Viel bemerkenswerter sind die geheimen Vereinbarungen und Rechtsbrüche, welche das Ganze erst ermöglichten und allen Grund zur Desillusionierung bieten, was die deutsche Souveränität, aber auch die Verfassungswirklichkeit hierzulande betrifft.

So verstieß die Kontrolle des Post- und Fernmeldeverkehrs der Bundesbürger fast zwanzig Jahre lang gegen den Artikel 10 des Grundgesetzes, welcher besagt, daß eine Verletzung des Grundrechts auf das Post- und Fernmeldegeheimnis „nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden“ dürfe. Denn eine solche Regelung, das sogenannte G-10-Gesetz, trat erst am 1. November 1968 in Kraft.

Bis dahin wurde die Bevölkerung der Bundesrepublik in dem Glauben gelassen, daß es keinerlei Überwachung gebe. In der Realität freilich hatte die Regierung Adenauer den Verfassungsbruch bereits während der Pariser Verhandlungen über die Westverträge durch geheime Zusatzvereinbarungen sanktioniert, wie Foschepoth nun herausfand: „Das, was grundgesetzlich verboten war, wurde kurzerhand zum alliierten Vorbehaltsrecht erklärt und dadurch ein essentielles Grundrecht mit Zustimmung des Bundeskanzlers durch Verlängerung des Besatzungsrechts ausgeschaltet.“ Aus den weitgehenden Sonderbefugnissen der westlichen Besatzungsmächte in puncto Überwachung des Post- und Telefonverkehrs, die sich bisher aus dem Besatzungsstatut vom Mai 1949 ergeben hatten, wurde jetzt also der sogenannte „Überwachungsvorbehalt“. Dieser wurde freilich nicht im Deutschlandvertrag vom Mai 1955 erwähnt, weil er schlecht zu der hochtrabenden Formel gepaßt hätte, daß die Bundesrepublik nunmehr „die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheit erlangt“ habe.

Aber auch das G-10-Gesetz, das den rechtlosen Zustand ändern sollte, unter dem übrigens auch die vielen zwangsinvolvierten deutschen Postbediensteten litten, war eine völlige staatsrechtliche Mißgeburt. Schon das legislative Verfahren geriet komplett zur Farce, denn das „Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses“, welches permanente Gültigkeit haben sollte, wurde juristisch völlig systemwidrig zwischen die Notstandsgesetze gemischt, die ihrerseits nur die im Notstandsfall geltenden besonderen Ermächtigungen regelten. Zweck dieses Kunstgriffs war natürlich, zu verbergen, was die Große Koalition hier ausgeheckt hatte. Zum ersten gestattet das Gesetz nämlich eine Überwachung ohne jedweden konkreten Tatverdacht, zum zweiten wird Betroffenen der Rechtsweg versperrt und zum dritten übernahmen die drei bundesdeutschen Nachrichtendienste jetzt im Auftrag der Westalliierten die Schnüffelei, ohne dabei aber einer wirksamen Kontrolle zu unterliegen.

Natürlich wurde gegen das G-10-Gesetz eine Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Doch das entschied am 15. Dezember 1970 völlig überraschend, den offenkundigen Verfassungsbruch abzusegnen, so daß die Verfassungsschutzbehörden, der BND und der MAD seither gesetzeskonform an die „strategische“ Überwachung sämtlicher Bundesbürger gehen können.

Doch das ist noch nicht alles: Wie Foschepoth ebenfalls eruierte, liegen im Vertragsarchiv des Auswärtigen Amtes geheime bilaterale deutsch-alliierte Verwaltungsvereinbarungen von 1968/69, in denen festgeschrieben wurde, daß das G-10-Gesetz überhaupt nichts daran ändere, daß die USA, Frankreich und Großbritannien weiterhin das Recht besäßen, den bundesdeutschen Post- und Telefonverkehr zu kontrollieren beziehungsweise von den drei deutschen Geheimdiensten nach Bedarf überwachen zu lassen. Und da dieses Recht aus dem Zusatzabkommen zum Nato-Truppenstatut vom 1. Juli 1963 abgeleitet wurde, welches nach wie vor Geltung hat, ist die bundesdeutsche Souveränität auch zum heutigen Zeitpunkt mindestens in diesem Punkt eingeschränkt.

Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, gebunden, 382 Seiten, 34,99 Euro

Foto: Telefonhörer mit Warnschild: Rechte aus dem Zusatzabkommen zum Nato-Truppenstatut abgeleitet

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