© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/13 / 28. Juni 2013

Belogen und betrogen
Familienpolitik unter der Lupe: Eine einzige Mogelpackung
Michael Paulwitz

Familienpolitiker sind Meister im Orwellschen Neusprech. Wenn sie „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ sagen, wollen sie Kinder und Familien zur geräuschlosen Anpassung an die Erfordernisse des Erwerbslebens nötigen. Der „Rechtsanspruch“ der Kinder auf einen Betreuungsplatz meint die Pflicht der Eltern, ihren Nachwuchs möglichst früh staatlicher Obhut zu überantworten, und wenn sie Familien widerwillig einen Teil der zuviel gezahlten Steuern zurückerstatten müssen, nennen sie das „Subvention“, „familienpolitische Leistung“ oder schlicht „Steuergeschenk“.

Bundesfamilienministerin Schröder und Bundesfinanzminister Schäuble brüsten sich einerseits, der Staat unterstütze Familien mit jährlich 200 Milliarden Euro in 156 steuernden, fördernden und lenkenden Einzelinstrumenten, die alle wirksam, unverzichtbar und sogar noch auszubauen wären. Andererseits stagnieren die Geburtenraten der Deutschen hartnäckig auf niedrigstem Niveau. Die meisten „familienpolitischen Leistungen“ sind gar keine, sie sind vielmehr von der Verfassung gebotener, aber unvollständiger Ausgleich für politisch gewollte Benachteiligungen von Eltern und Kindern. Oder aber sie verfolgen ganz andere Ziele, die weder mit Familien noch mit Demographie, sondern mit ökonomischen und gesellschaftsideologischen Interessen zu tun haben.

Das Bundesfamilienministerium selbst muß einräumen, daß nur ein Viertel der 200 Milliarden zur „Familienförderung im engeren Sinne“ zählen. Schaut man genauer hin, wie der Deutsche Familienverband es getan hat, schrumpft der Kuchen noch weiter: Bei den ehebezogenen Maßnahmen – fast 75 Milliarden – entfällt der größte Anteil auf Witwen- und Waisenrenten und das vom Gleichbesteuerungsgrundsatz gebotene Ehegattensplitting. Größter Posten bei den steuerlichen Maßnahmen (45,6 Milliarden Euro) ist mit 38,8 Milliarden das Kindergeld; mehr als die Hälfte davon ist allerdings reine Rückerstattung von zuvor von den Familien gezahlten Strafsteuern auf das – viel zu niedrig angesetzte – steuerfreie Existenzminimum der Kinder.

Ausgaben für Kindergärten, Krippen, Horte, Kindertagesbetreuung – rund 16 Milliarden – helfen keineswegs nur den Familien. Sie dienen ebenso Wirtschaftsinteressen und sollen nach dem Willen der Politik ja einen Bildungsauftrag erfüllen. Soziale Transferleistungen an Bedürftige (4,2 Milliarden) und Eingliederungshilfen für behinderte Kinder wiederum (immerhin 3,5 Milliarden Euro) sind nicht familienspezifisch, sondern allgemeine Sozialleistungen, die im Sozialstaat grundsätzlich jedem zustehen.

Wohl die größte Mogelpackung sind die „Maßnahmen der Sozialversicherung“: Die „beitragsfreie Mitversicherung“ von Minderjährigen in der Gesetzlichen Krankenversicherung, die mit gut 16 Milliarden Euro zu Buche schlägt, ist nämlich gar nicht „beitragsfrei“; schließlich zahlen die Eltern, da die Sozialsysteme keine Freibeträge kennen, auch auf das Existenzminimum ihrer Kinder Sozialabgaben. Auch der Bundeszuschuß von fast zwölf Milliarden an die Rentenkasse für angerechnete Kindererziehungszeiten ist keine „Familienförderung“, sondern verfassungsrechtlich geboten, und er landet auch nur zur Hälfte bei den Anspruchsberechtigten, weil der Müttergeneration der heute den Karren ziehenden Babyboomer, anders als den Müttern von nach 1992 geborenen Kindern, nur eines statt drei Kindererziehungsjahren angerechnet wird. Ob die Union, sollte sie wieder die Regierung stellen, diese krasse Ungerechtigkeit beseitigen wird, steht bekanntlich unter Finanzierungsvorbehalt.

Leicht könnte man hier – wie es die Rechtswissenschaftlerin Anne Lenze und der Sozialrichter Jürgen Borchert getan haben – die Gegenrechnung zur Transferausbeutung der Familien durch die Sozialsysteme aufmachen: Weil der Beitrag der Eltern zum Generationenvertrag weitgehend als Privatvergnügen behandelt, der daraus erwachsende Nutzen – der Fortbestand von Staat und Volk und die Aufrechterhaltung der Sozialsysteme durch die Abgabenleistungen der kommenden Generationen – zum Vorteil aller sozialisiert wird, werden Eltern faktisch bestraft. Die wenigen echten staatlichen Ausgleichsleistungen sind da nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Würden Eltern steuer- und sozialversicherungsrechtlich fair behandelt, durch angemessene Kinderfreibeträge in der Einkommensteuer, Freistellung des Existenzminimums der Kinder von Sozialversicherungsbeiträgen und Rückgewähr der auf den Kindesunterhalt gezahlten Mehrwertsteuer, wäre die Kindergrundsicherung auch ohne staatliche Transfers gewährleistet, rechnet die – übrigens SPD-nahe – Professorin Lenze vor.

Daß wider besseres Wissen die magische Zahl von 200 Milliarden Euro für die Familienpolitik lanciert wird, lenkt nicht nur von diesem Versäumnis ab: Man leitet daraus auch die Rechtfertigung zur Einmischung ab, um Eltern durch dirigistische Maßnahmen – vom Krippenprogramm bis zum „Vätermonat“ beim Elterngeld – zum sozioökonomisch erwünschten Lebensentwurf zu nötigen. Mehr Kinder werden deshalb, nachvollziehbar, nicht geboren. Eine Familienpolitik, die darauf verzichtet, Eltern mit selbstfinanzierten Wohltaten zu beglücken, und ihnen statt dessen mehr Luft zum Atmen läßt, wäre langfristig wohl nicht nur billiger, sondern auch wirksamer.

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