© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/13 / 28. Juni 2013

Aktion Weinlese
Vor 20 Jahren: Der GSG-9-Einsatz in Bad Kleinen und seine Folgen
Christian Vollradt

Vier Schüsse aus der tschechischen CZ 75 „Brünner“, Kaliber 9 Millimeter, trafen den GSG-9-Beamten Michael Newrzella am Nachmittag des 27. Juni 1993 auf dem Bahnhof des mecklenburgischen Provinzstädtchens Bad Kleinen, nahe Schwerin. Der 25jährige Elitepolizist mit dem internen Rufnamen „Shorty“ hatte mit sechs Kollegen gerade einen Mann die Treppe hinauf zu den Gleisen 3 und 4 verfolgt, der zur Führung der terroristischen Roten Armee Fraktion (RAF) gehörte: Wolfgang Grams. Der hatte mitbekommen, wie andere GSG-9-Männer seine Komplizin Birgit Hogefeld, mit der er auf dem Bahnhof verabredet war, festgenommen und auf den Boden gedrückt hatten.

Oben auf dem Bahnsteig angekommen, hatte Grams sich blitzschnell umgedreht und sofort das Feuer auf seine Verfolger eröffnet. Newrzella, dessen Heckler & Koch noch im Holster steckte, stürzte zu Boden, auch ein weiteres Mitglied der Spezialeinheit wurde durch die Schüsse von Grams verletzt. Die Beamten erwiderten das Feuer; Grams stürzte von mehreren Kugeln getroffen auf das Gleisbett. Nach einer Erstversorgung wurde der RAF-Terrorist per Hubschrauber in die Uni-Klinik nach Lübeck geflogen, wo er um 17.30 Uhr in der Notaufnahme verstarb. Eine halbe Stunde später starb während einer Notoperation in Schwerin der junge Kommissar Newrzella. Er ist das letzte Todesopfer der RAF.

„Katastrophe des  deutschen Journalismus“

Wegen der zwei Toten wird der Name „Bad Kleinen“ zum Synonym für eine Polizeiaktion, die im Desaster endete. Sieben verschiedene Behörden waren beteiligt, insgesamt 97 Beamte im Einsatz: 37 von der GSG 9 sowie 22 weitere vom Bundesgrenzschutz, dazu 38 BKA-Männer. Zwei Monate hatte man sich auf den Zugriff vorbereitet.

Vorausgegangen war ein Coup des rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzes: Ein V-Mann der Behörde, „Klaus“, hatte im Februar 1992 in Paris eine Frau getroffen, die seit vielen Jahren in der Illegalität lebte und ihm davon berichtete, sie und ihre Genossen seien des bewaffneten Kampfes müde. Schnell ahnten die Ermittler, daß es sich bei der Person um die RAF-Terroristin Birgit Hogefeld handelte, nach der man seit über sieben Jahren fahndete (siehe Kasten).

Bei einem weiteren Treffen im April 1993 (in Deutschland) kam ein Mann dazu, Wolfgang Grams, Terrorist und Lebensgefährte von Hogefeld. Damit hatten die Nachrichtendienstler einen direkten Draht zur Führung der RAF. „Klaus“ unterrichtete seinen V-Mann-Führer, daß für Juni ein gemeinsamer „Kurzurlaub“ in Mecklenburg-Vorpommern geplant sei.

Am 13. Mai 1993 entschied Generalbundesanwalt Alexander von Stahl als „Herr des Ermittlungsverfahrens“ (siehe nebenstehendes Interview) in einer Runde mit den Spitzen von Bundeskriminalamt und anderen Behörden, daß die „bei dem Treffen erscheinenden Mitglieder der RAF-Kommandoebene zu verhaften sind“ und die gesuchten Terroristen „nicht entkommen dürfen“. Der Zugriff hatte unbedingt erfolgen müssen, weil nicht klar war, ob es je zu einem weiteren Treffen zwischen Hogefeld und „Klaus“ komme.

Die Verfassungsschützer allerdings bestanden darauf, daß während der Aktion „Weinlese“, so der Deckname, ihr V-Mann nicht „verbrennt“. Zweifelsohne eine schwere Hypothek. Fatal hatte sich offenbar auch ausgewirkt, daß der GSG-9-Einsatz, anders als üblich, nicht von einem höheren Dienstgrad der Truppe „von vorn“, sondern von Polizeiführern aus dem Hintergrund geleitet wurde.

Reporter-Urgestein Dagobert Lindlau schrieb rückblickend, unmittelbar nach Bad Kleinen habe sich in erster Linie „eine der schlimmsten Informationskatastrophen des deutschen Journalismus ereignet“. Denn sowohl der Spiegel als auch das NDR-Politmagazin Monitor hatten kurz danach behauptet, der Terrorist Wolfgang Grams sei nicht festgenommen, sondern von der GSG 9 „regelrecht hingerichtet“ worden. „Tötung wie eine Exekution“, titelte der Spiegel. Das Blatt wartete sogar mit Zeugen auf, darunter einem angeblichen Polizisten, der behauptete: „Ein Kollege der GSG 9 hat aus einer Entfernung von Maximum fünf Zentimetern gefeuert.“

Die Staatsanwaltschaft Schwerin leitete gegen zwei Beamte der Spezialeinheit ein Ermittlungsverfahren ein. Nach Zeugenvernehmungen und Sachverständigengutachten stand im Januar 1994 fest, daß „eine rechtswidrige Tötung durch aus nächster Nähe abgegebene Schüsse auf Grams ausscheidet“. Der Terrorist hatte sich mit der eigenen Waffe in den Kopf geschossen, so die Staatsanwälte.

Zu diesem Zeitpunkt hatten jedoch bereits zehn Personen ihre Posten räumen müssen, darunter Innenminister Rudolf Seiters und Generalbundesanwalt von Stahl. Deutschlands oberster Strafverfolger wurde von einem Zwischenbericht der Bundesregierung vollständig entlastet.

Beanstandet wurden darin allerdings „erhebliche Fehler bei der Tatortarbeit und bei der Spurensicherung“ sowie bei der „Informationsweitergabe“. Unter anderem wurde den Verantwortlichen von BKA und Verfassungsschutz vorgeworfen, daß die Existenz einer „dritten Person“ – des V-Manns – am Tatort verheimlicht worden war.

Die taz machte bereits im Juli 1993 den Namen dieser „dritten Person“ öffentlich und plauderte aus, was in der linksradikalen RAF-Unterstützerszene schon länger gemutmaßt wurde: „Der Verrat des Klaus Steinmetz“ war der Artikel betitelt. Autorin: Birgit Hogefeld höchstpersönlich. „Klaus Steinmetz ist ein Polizeispitzel, er hat die Geheimdienste auf unsere Spur gebracht“, beklagte die inhaftierte Terroristin. „Ohne seine Spitzeldienste würde Wolfgang noch heute leben, und wir wären beide in Freiheit.“ Die RAF hat – soweit bekannt – seit Bad Kleinen keinen Terrorakt mehr begangen. 1998 verkündete die Gruppe ihre Selbstauflösung.

 

Die RAF-Terroristen Grams und Hogefeld

Wolfgang Grams (1953–1993) gehörte zu denen, die im Jahr 1984 die nach mehreren Verhaftungen fast schon zerschlagene RAF wieder aufbauten. Der ehemalige Lehramtsstudent hatte bereits in den siebziger Jahren Kontakt zu der Terrorgruppe und war 1978 verhaftet worden. Da man ihm nichts nachweisen konnte, wurde das Ermittlungsverfahren gegen ihn 1980 eingestellt. Für die Zeit der Untersuchungshaft erhielt Grams Entschädigung.

Erst 2001, acht Jahre nach seinem Tod, konnte durch neue Verfahren eine DNS-Spur von Grams nachgewiesen werden, die man in der Nähe des Tatorts der Ermordung von Treuhandpräsident Detlev Karsten Rohwedder am 1. April 1991 in Düsseldorf gefunden hatte.

Birgit Hogefeld (Jahrgang 1956) ging 1984 in den Untergrund. Sie hatte sich als Jurastudentin und Mitglied der linksextremen „Roten Hilfe“ in den siebziger Jahren für inhaftierte RAF-Mitglieder engagiert. Hogefeld zählt mit ihrem Lebensgefährten Grams zur sogenannten dritten Generation der RAF. In deren Zeit fallen unter anderem die Ermordung des Siemens-Managers Karl Heinz Beckurts und seines Fahrers (1986), des Diplomaten Gerold von Braunmühl (1986), des Deutsche-Bank-Chefs Alfred Herrhausen (1989) und Detlev Karsten Rohwedders (siehe oben) sowie der Sprengstoffanschlag auf den Neubau der Haftanstalt Weiterstadt (1993).

Hogefeld wurde nach ihrer Festnahme in Bad Kleinen wegen mehrfachen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Unter anderem wurde ihr die Beteiligung am Bombenanschlag auf den US-Luftwaffenstützpunkt in Frankfurt mit zwei Toten und über 20 Verletzten am 8. August 1985 nachgewiesen. So soll die Terroristin am Abend zuvor einen GI in eine Falle gelockt haben, um in den Besitz seines Dienstausweises zu gelangen. Der 20jährige Soldat wurde anschließend mit einer Schußwaffe ermordet. Hogefeld kam im Juni 2011 aus der Haft frei.

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