© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/13 / 28. Juni 2013

Gewitterwolken von Südosten
Die Redl-Affäre in Österreich, die russische Aufrüstung und der zweite Balkankrieg: Im Sommer 1913 spitzt sich die Lage im k.u.k.-Reich und bei seinen Nachbarn zu
Erik Lehnert

Das Jahr 1913 erfreut sich einer höheren Aufmerksamkeit, als das sonst bei Jahren der Fall ist, die kein Ereignis symbolisieren. Das liegt nicht nur daran, daß es hundert Jahr zurückliegt und damit ein Jubiläum hat, sondern an dem Jahr selbst. Mit ihm wird dem letzten friedlichen Jahr des alten Europa gehuldigt; bevor Weltkrieg, Versailler Vertrag und die Abschaffung der Monarchien eine Phase einläuteten, die als zweiten Dreißigjährigen Krieg zu bezeichnen sich mittlerweile eingebürgert hat.

Für das Deutsche Reich treffen die positiven Zuschreibungen für das Jahr 1913 zweifellos zu. Es stand in voller Blüte, politisch, wirtschaftlich und kulturell. Die Spannungen, die es mit Frankreich oder England immer wieder gab, waren nicht so gelagert, daß daraus ein Krieg hätte entstehen müssen. Gleichwohl war man nicht naiv und wußte, daß die eigene Sicherheit nur dann Bestand haben würde, wenn man in der Lage wäre, diese zu verteidigen. Mit Clausewitz herrschte die Überzeugung, daß „der Krieg nichts ist als die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln“. Ein probates Mittel also, aber man war sich in Berlin bewußt, daß der höhere Einsatz auch ein höheres Risiko bedeutete.

Kann der Erste Weltkrieg für das Deutsche Reich durchaus als Betriebsunfall gelten, der eben nicht notwendig eintreten mußte, ließ die Konstellation im Südosten Europas schon 1913 nichts Gutes erwarten. Konflikte gab es dort ständig, und man hatte alle Mühe, diese einzugrenzen und zu hegen. Das letzte gesellschaftliche Großereignis in Berlin vor dem Krieg, die Hochzeit der einzigen Tochter von Wilhelm II., versammelte mit dem Zaren und dem englischen König die späteren Feinde, und der Kaiser dachte, dadurch das Balkanproblem gelöst zu haben (JF 21/13).

Damit waren die Nachwirkungen des ersten Balkankrieges im Oktober 1912 gemeint, der dazu geführt hatte, daß die jungen Nationen Serbiens, Bulgariens, Griechenlands und Montenegros das Osmanische Reich vom europäischen Kontinent an die Grenze Europas verschoben. Das hatte Österreich-Ungarn in die Defensive gebracht, das durch die große Zahl von Südslawen in seinen Grenzen die Begehrlichkeiten Serbiens weckte. Unterstützt wurde es darin von Rußland, für das Serbien ein zusätzliches Druckmittel gegen Österreich war, das aber ganz andere Ziele verfolgte. Durch verschiedene Verträge und geheime Unterstützungsabkommen waren mit Österreich und Rußland auch die anderen Großmächte involviert, die zudem eigene Interessen in der Region hatten.

An einem großen Krieg   hatte keine Seite Interesse

In Österreich war man sich des schwindenden Einflusses bewußt und war bereit, etwas dagegen zu tun. Die Balkankriege – der zweite begann kurz nach der Aufteilung der osmanischen Beute Ende Mai 1913 und endetet mit einer Niederlage Bulgariens am 10. August 1913 – boten genügend Gelegenheit, Serbien anzugreifen. Es war Deutschland, das Österreich zwar grundsätzlich seine Solidarität gegen Rußland versicherte, von einem Krieg gegen Serbien aber nichts wissen wollte, weil man sich über die unabsehbaren Konsequenzen bewußt war. Deutschland wollte die Krise nicht verschärfen und war über die totale Kriegsführung, die auf dem Balkan die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten aufgehoben hatte, vorsichtig geworden.

Die Spannungen führten jedoch zur Aufrüstung. Den Mittelmächten Deutschland und Österreich blieb nicht verborgen, daß Rußland massiv von Frankreich in seinen Rüstungsbemühungen unterstützt wurde, die darauf abzielten, Deutschland im Ernstfall möglichst schnell zu einem Zwei-frontenkrieg zu zwingen. Das förderte dort die Kriegsbereitschaft, weil die Aussichten auf einen späteren kurzen Krieg immer geringer wurden. Dennoch bestand lagerübergreifend Einigkeit darüber, daß man an einem großen Krieg kein Interesse habe. In diesem Sinne wurden die Balkankriege gehegt und bei der Londoner Botschafterkonferenz im Dezember 1912 mäßigend auf die möglichen Gegner, Rußland und Österreich, eingewirkt.

Die öffentliche Meinung war da wesentliche forscher und zwar europaweit, was vor allem mit den innenpolitischen Problemen in den Staaten der Entente zusammenhing. Ein wirklicher Befreiungsschlag konnte der Krieg nur für die kriselnden Staaten Frankreich, Österreich, Rußland und England sein. In Deutschland gab es zwar auch eine starke prokriegerische Strömung, die öffentlich mittels Alldeutschen Verbandes und anderer Vereinigungen Stimmung machte, doch handelte es sich eher um eine Minderheit, weil die innenpolitischen Probleme im Vergleich zu den anderen Ländern harmlos waren.

Der unterschiedliche Entscheidungsdruck läßt sich auch an den Kriegszielen der späteren Kriegsgegner ablesen. Für alle Anrainer ging es zunächst um die Aufteilung der Interessensphären, die durch das marode Osmanische Reich frei wurden. Rußland sah sich als Schutzmacht der Slawen und wollte einen Zugang zum Mittelmeer. Allerdings war die russische Strategie, im Hintergrund die Fäden zu ziehen, bereits im Oktober 1912 bei Ausbruch des Balkankrieges gescheitert. Die slawischen Staaten emanzipierten sich, machten eigene Politik und schufen Tatsachen. Österreich wollte sich den Südosten als Einflußsphäre erhalten, um seinem Anspruch, Großmacht zu sein, überhaupt noch gerecht zu werden können. Italien spekulierte nach der Eroberung Libyens auf weitere Gebietsgewinne. Deutschland und Frankreich verfolgten vor allem wirtschaftliche Ziele in der Region, England versuchte sich als Makler, stand aber eindeutig auf der Seite Rußlands und Frankreichs.

Die Hauptkonfrontation herrschte allerdings zwischen Rußland und Österreich. Rußland wollte Österreich in die Schranken weisen und den eigenen Einfluß ausbauen, Österreich wollte seinen Bestand sichern, sich an der Adriaküste verstärken und damit die Nummer eins in der Region bleiben. Die Erfolge von Montenegro und Serbien in den Balkankriegen riefen daher Österreich auf den Plan. Es kam im Laufe des Jahres 1913 zu Truppenkonzentrationen in Bosnien und allgemeiner Verstärkung an den Grenzen. Grund war nicht zuletzt die unklare Situation in den albanischen Siedlungsgebieten, die Rußland gern unter seine Kontrolle gebracht hätte, um den Zugang zum Mittelmeer zu erhalten. Durch den Kompromiß, einen eigenen albanischen Staat zu gründen, konnte die Situation nur kurz entschärft werden.

Rußland wollte den Vielvölkerstaat zertrümmern

Wie aus zahlreichen Dokumenten hervorgeht, war Rußland in dieser Situation der Kriegstreiber, das Österreich im eigenen Interesse zertrümmern wollte und dazu auf die serbischen Ambitionen setzte und diese gezielt anstachelte. So war der russische Außenminister Sergej Sasonow davon überzeugt, daß „Serbiens verheißenes Land im Gebiete des heutigen Österreich-Ungarn“ liege und die Zeit für „Serbien und zum Verderben seiner Feinde, die schon deutliche Zeichen der Zersetzung aufweisen“, arbeite. Weiter hieß es, Serbien könne sich auf Rußland verlassen, solle aber keine unüberlegten Schritte tun. Daß der Krieg trotz dieses Drucks erst 1914 ausbrach, dürfte nicht zuletzt mit dem „Fall Redl“ zusammenhängen.

Der österreichische Oberst Alfred Redl hatte nicht nur jahrelang für die Russen spioniert, er war auch für die österreichischen Spione in Rußland zuständig. So waren die Russen durch Redl, der seinen ausschweifenden Lebenswandel als Homosexueller mit dem Verrat finanzierte, nicht nur über die österreichischen Pläne im Kriegsfall informiert, sie mußten zudem nicht befürchten, daß die andere Seite etwas von den eigenen wußte. Dementsprechend tief ging der Schock, als die Affäre aufgedeckt wurde, nachdem Redl gestellt worden war und sich am 25. Mai 1913 erschossen hatte. Die Versuche, den Fall zu vertuschen, blieben erfolglos, und die k.u.k.-Monarchie mußte um ihre Wehrfähigkeit fürchten.

Selbst für den linken Journalisten Egon Erwin Kisch, der den Fall Redl aufgedeckt hatte, stand fest: „Von den Wolken des Vorkriegs war die Redl-Affäre die dunkelste: Wie soll die k.k. Armee einen Krieg bestehen, wenn ihre Aufmarschpläne bis ins letzte Detail verraten sind?“ Aber auch Rußland hielt sich zunächst zurück, da der strategische Vorteil mit der Enttarnung des Spions geringer geworden war. An der grundsätzlichen Zielstellung Rußlands änderte sich dadurch nichts. Dort wartete man nur auf die nächstbeste Gelegenheit, um den Krieg vom Zaun zu brechen. Am 28. Juni 1914 war es schließlich soweit: Mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand durch den Hilfsarbeiter Gavrilo Princip, der mit Hilfe des serbischen Geheimbundes „Schwarze Hand“ agierte, spitzte sich die Lage im Südosten Europas entscheidend zu.

Foto:  Der deutsche Kaiser Wilhelm II. und Franz Joseph I., Kaiser von Österreich und König von Ungarn: Deutliche Zeichen der Zersetzung

Foto: Oberst Alfred Redl (l.) 1913 mit dem Prager Korpskommandanten, General Arthur Giesl von Gieslingen: „Wie soll die Armee einen Krieg bestehen, wenn ihre Aufmarschpläne bis ins letzte Detail verraten sind?“

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