© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/13 / 05. Juli 2013

Ein Schritt vor, zwei zurück
Ägypten: Zwei Jahre nach dem Sturz Husni Mubaraks steht die Zukunft des Landes auf dem Spiel / Militär als Zünglein an der Waage
Günther Deschner

Pünktlich zum ersten Jahrestag des Amtsantritts von Präsident Mohammed Mursi am 1. Juli 2012 erlebte Ägyptens Hauptstadt wieder Massendemonstrationen. Dort, wo in den drei Wochen der Revolution im Frühjahr 2011 Hunderttausende gegen Husni Mubarak demonstriert hatten, dort wo Ägypten nach Jahrzehnten der autoritären Führung in eine „demokratische Zukunft“ geführt werden sollte – dort demonstriert man jetzt gegen den ersten gewählten Präsidenten. Hunderttausende zeigten dem Präsidenten rote Karten mit der Aufschrift „Irhal“ („Hau ab!“) oder „Game over“.

Die Oppositionsbewegung hat weite Teile des ägyptischen Volkes erfaßt. Mit dabei sind nicht nur die Aktivisten von „damals“, auch die Mittelschicht solidarisiert sich. Und selbst einstige Anhänger Mursis wenden sich nun gegen den umstrittenen Präsidenten.

Ein breites Bündnis gegen den mediokren und glücklosen Islamisten, die Initiative „Tamarod“ („Rebellion“), hatte schon seit Wochen mit einer Flugblattkampagne mobil gemacht und mehr als 22 Millionen Unterschriften gegen Mursi gesammelt. Das sind ein paar Millionen mehr, als Mursi Wähler hatte, ein Viertel der 85 Millionen Ägypter.

Die Initiative fordert den Rücktritt des Präsidenten, die Einsetzung einer Technokraten-Regierung und Neuwahlen innerhalb von sechs Monaten. Fünf Minister der Regierung Mursi (Justiz, Parlamentsangelegenheiten, Kommunikation, Tourismus und Umwelt) haben die Rücktrittsforderung bereits am Montag auf sich bezogen und demissionierten. Dann nahm auch der amtierende Außenminister Mohammed Kamel Amr seinen Hut.

Doch das Lager von Mohammed Mursi, das sich um den harten Kern der Organisation der Muslimbrüder schart, wird nicht so leicht aufgeben, denn es beruft sich auf Mursis demokratische Legitimierung. Die Islamisten wissen, daß sie bei Neuwahlen verlieren würden und einen enormen Machtverlust hinnehmen müßten.

Mursi war nur selten der Präsident aller Ägypter

Im Lager der Demonstranten hingegen sagt man, daß Mursi vielleicht demokratisch gewählt worden, aber „nie in der Demokratie angekommen“ sei, und daß er deshalb die Legitimität verloren habe und zurücktreten müsse. Der ägyptische Friedensnobelpreisträger, Diplomat und Ex-Präsidentschaftskandidat Mohammed el-Baradei brachte die allgemeine Enttäuschung über Mursis bisherige Amtsführung spöttisch auf den Punkt: „Wir haben ihm einen Führerschein gegeben, aber er kann nicht Auto fahren.“

Mursi, als erster frei gewählter ägyptischer Staatschef, hat seit seinem Amtsantritt vor einem Jahr viel Vertrauen eingebüßt. Damals versprach er, Präsident aller Ägypter sein zu wollen. Doch seither hat er vor allem seine eigene Macht ausgebaut – und den Einfluß der islamistischen Muslimbruderschaft, aus der er selbst stammt.

Die Verabschiedung einer islamistisch gefärbten Verfassung und ein Gesetzesvorschlag zur Säuberung der Justiz sind für die Opposition Belege dafür, daß die Islamisten alle Staatsorgane unter ihre Kontrolle bringen wollen. Als Mursi jüngst sieben Muslimbrüder zu Provinzgouverneuren ernannte, reagierte die Opposition entsetzt. Sie sieht darin einen weiteren Beleg für die Islamisierung des öffentlichen Lebens.

Die Lage in Ägypten ist brisant, nicht nur politisch: Auch in der Wirtschaftspolitik werfen die Gegner dem Präsidenten Unfähigkeit vor. Ständige Stromausfälle, Benzinknappheit und steigende Preise sind die Folgen einer gravierenden Krise, die die ärmeren Schichten besonders hart trifft.

Das Land am Nil bräuchte dringend Investitionen. Das ägyptische Pfund verliert seit Monaten an Wert, die Inlandsschulden steigen an. Fast 40 Prozent der erwerbsfähigen Ägypter sind unterbeschäftigt, über 13 Prozent haben gar keine Arbeit.

Der Tourismus, wichtiger Wirtschaftszweig und Devisenbringer des Landes, leidet unter der instabilen politischen Lage. Schon 2012 war die Zahl der Touristen auf 9,8 Millionen eingebrochen, nach 14,7 Millionen im Vorjahr. Der Umsatz schrumpfte um 30 Prozent auf umgerechnet 6,7 Milliarden Euro.

Mit den Massenprotesten gegen Präsident Mursi nimmt die Staatskrise immer dramatischere Züge an. Niemand weiß, wer Ägypten Ende dieser Woche regieren wird. Mursi? Ein Übergangspräsident? Die Armee? Deren Chef, General Abdel Fattah al-Sisi, hatte sich am vergangenen Montag in die Staatskrise eingeschaltet und ultimativ eine Lösung des Machtkampfes binnen 48 Stunden gefordert.

Damit verpflichtete er de facto den Präsidenten, auf die Forderungen der Demonstranten zumindest teilweise einzugehen. „Andernfalls“, so der General, müsse die Armee „der Politik den Weg weisen“.

Mursi wies das Ultimatum zur Verständigung mit der Opposition noch in der Nacht zu Dienstag zurück. Die Armee läßt derweil rund um die Uhr Hubschrauber, mit der Flagge Ägyptens im Schlepp, über den Orten der Massendemonstrationen fliegen.

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