© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/13 / 05. Juli 2013

Freie Geister sind gefährlich
Kein Ort, nirgends: Die weltweite Vernetzung macht es nahezu unmöglich, irgendwo unentdeckt zu bleiben
Erik Lehnert

Daß wir nicht allein auf der Welt sind, ist eine Lektion, die jeder Mensch im Laufe seiner Entwicklung lernen muß. Tut er es nicht, bleibt er ein asoziales Wesen, dem eine grundlegende sittliche Erfahrung fehlt. Diese besteht nicht nur in der Erkenntnis des Angewiesenseins auf und der Verantwortung für andere, sondern auch darin, daß es einen Punkt gibt, den wir mit niemandem teilen, der uns von anderen unterscheidet.

Das ist der Kern unserer Individualität. Auf dieses qualitativ Andere legen wir großen Wert, wir müssen es betonen und sind darauf angewiesen, daß er wahrgenommen wird. Das Bestreben nach sozialer Anerkennung bringen wir nicht nur mit Äußerlichkeiten zum Ausdruck, sondern auch mittels Gedanken.

Was der andere denkt, war und ist eine überlebenswichtige Frage. Wir versuchen zu erraten, was im Gegenüber vorgeht, was ihn umtreibt, wie er reagieren wird. In einer Situation, in der es um Leben und Tod geht, wird diese Fähigkeit zum Gedankenlesen existentiell. Vor dieser Situation stehen die Geheimdienste seit jeher. Ihnen geht es um das Individuum, das Entscheidungen zu treffen hat, ebenso wie um die graue Masse, in der sich jemand verstecken könnte, der im geheimen zu einer Gefahr heranwächst. Der Zwang zur Kommunikation, der den Menschen auszeichnet, ist ihre Quelle.

Das im Internet angehäufte Material ist heute unüberschaubar, so daß es logisch erscheint, diese Datenmenge nicht qualitativ, sondern statistisch auszuwerten. Wer es vorher nur ahnte oder nicht wahrhaben wollte, hatte nach dem Fall Snowden die Gewißheit, daß die Geheimdienste sich genau dieser Mittel bedienen und dabei von keinen größeren rechtsstaatlichen Skrupeln geplagt werden. Wenn’s gut läuft, merkt es keiner beziehungsweise wir sind dankbar, daß ein Anschlag auf diese Art verhindert werden konnte. Wer die Ermittlungen nach dem Bombenanschlag in Boston verfolgt hat, wird sich vielleicht erinnern, in wie kurzer Zeit nicht nur Bilder, sondern auch die Motive der beiden offen zutage lagen. Das lag nicht nur an den überall installierten Kameras und aufmerksamen Beobachtern am Tatort, sondern vor allem an der Mitteilsamkeit der Attentäter. Dr. Richard Kimble hätte heute keine Chance mehr.

Daß es keinen Ort mehr zu geben scheint, an dem wir unbeobachtet sind, hat vor allem damit zu tun, daß wir auf Kommunikation und soziale Beziehungen angewiesen sind. Dabei vergessen wir schnell, daß es keine Geheimnisse gibt, wenn wir darüber reden und ein „Wikileaks“ nicht Regierungen treffen kann. Daß Osama bin Laden der meistgesuchte Mann war, hatte er der Tatsache zu verdanken, daß er der Weltmacht den Krieg erklärt hatte. Bis diese ihn schließlich in Pakistan aufspürte, war nur eine Frage der Zeit. Er war auf ein Netz von Kommunikationsträgern angewiesen, um sich zu verstecken und seinem Leben einen Sinn zu geben.

Daß man immer noch untertauchen kann, zeigt der Fall des Christopher Knight, der 27 Jahre unerkannt im Wald des US-Bundesstaates Maine lebte. Seine einzige Kommunikation mit der Außenwelt waren Einbrüche, um Lebensmittel zu erbeuten und ein Kofferradio. Er hatte also keinerlei Bedürfnis, eine Botschaft loszuwerden, sondern beschränkte sich ganz darauf, auf Empfangsbereitschaft zu bleiben. Niemand interessierte sich für ihn, bis es das Bild einer Überwachungskamera gab, das ihn gleichsam aus der Anonymität riß. Diese ungewollte Mitteilung war sein Verhängnis, weil das Interesse an seiner Person bis dahin gering war.

Daß wir überall Spuren hinterlassen, wird uns nur noch dann bewußt, wenn wir die Folgen sehen. Wolfgang Sofsky hat diesen Komplex in seiner Streitschrift „Verteidigung des Privaten“ bereits 2007 hellsichtig beschrieben. Für potentielle Gewalttäter mit politischer Botschaft ist es schwerer geworden: Die weltweite Vernetzung der Beobachter macht es nahezu unmöglich, irgendwo unerkannt zu bleiben. Bei der RAF war es noch recht mühsam, sie aufzuspüren. Beim NSU hätte es eigentlich schon anders sein müssen. Die Ungläubigkeit diesen Ereignissen gegenüber rührt nicht zuletzt daher, daß viele Banküberfälle und Morde stattfinden konnten, ohne Spuren zu hinterlassen. Entweder, so sagt die Logik, diese Leute waren nah am perfekten Verbrechen oder etwas mit dem Interesse an dem Trio stimmte nicht.

Insgeheim wissen wir aber auch, daß die Bedrohung von den einsamen Wölfen kommt. Ted Kaczynski, der Unabomber, ist vielleicht das paradigmatischste Beispiel für die Grenzen der Sicherheit, wenn der andere kein Interesse an Kommunikation mit Gegnern oder Gleichgesinnten hat. Er hat das Nietzsche-Programm des freien Geistes auf die Spitze getrieben.

Nietzsche sah den „freien Geist“ als Antipoden aller „modernen Ideologie und Herden-Wünschbarkeit“, damit des allgemeinen „grünen Weide-Glücks der Herde, mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens für jedermann“. Gültig ist bis heute, woher die Gefährlichkeit der freien Geister kommt: „Was Wunder, daß wir ‘freien Geister’ nicht gerade die mitteilsamsten Geister sind?“

Von ihnen geht die Gefahr aus. Dazu ist es nicht notwendig, daß sie im stillen Gewalttaten vorbereiten. Sie sind deshalb gefährlich, weil sie nicht kontrollierbar sind, egal ob sie etwas Böses vorhaben oder nicht. Insofern ist jeder, der seine Kommunikation auf das Notwendige beschränkt, ein nahezu weißes Blatt und für sein Gegenüber nur schwer einzuschätzen. Es ist die moderne Form der inneren Emigration, die einen den Nachstellungen der Mitmenschen entzieht und damit Macht verleiht.

Die Geheimdienste machen sich die Schwäche zu eigen, daß der Mensch nicht allein sein kann. Edgar Allan Poe sah darin sogar die Ursache menschlicher Niedertracht, gleichsam ein Werk des Teufels. Mit den Worten Sartres: „Die Hölle, das sind die anderen.“

Das sind sie nicht nur, insbesondere dann nicht, wenn wir bedenken, daß wir den anderen brauchen, um „das sich umgrenzende Ich“ (Gottfried Benn) zu sein. Je mehr Anerkennung wir bekommen, um so mehr haben wir preisgegeben. Niemand sollte sich dann wundern, daß er gläsern ist, ein offenes Buch, in dem vielleicht die geheimsten Wünsche zu lesen sind, über deren Existenz wir uns selbst nicht einmal klar waren. Es liegt an jedem selbst, was man preisgibt.

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