© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/13 / 05. Juli 2013

Herkunft läßt sich nicht wählen
Leiden und Werden: Der Schweizer Dokumentarfilm „Appassionata“ leuchtet die Wurzeln einer ukrainischen Pianistin aus / Geraubte Kindheit in Kiew
Sebastian Hennig

Alena Cherny ist stark geworden, nicht weil sie eine robuste Anlage dazu gehabt hätte, sondern weil sie die Notwendigkeit dazu drängte. Der Ehrgeiz der Mutter hat das hochbegabte Mädchen in ein Internat nach Kiew gebracht. In dieser Stadt bringt sie auch ihre Tochter zur Welt und erlebt, daß nach dem Reaktorunfalls von Tschernobyl der Bahnhof abgeriegelt wird. Später emigriert sie in die Schweiz.

Als ausgezeichnete Konzertpianistin ist sie dennoch kein Superstar. Das liegt ganz offensichtlich nicht an einem Mangel an Virtuosität. Ihr Spiel ist außergewöhnlich lebendig. Doch ihre schwierige Persönlichkeit teilt sich optisch sogar dann mit, wenn sie mit dem Flügel verschmilzt, oder gerade dann besonders stark. Denn die Entscheidung für das Klavierspiel war eine Entscheidung gegen das, was für die meisten das Leben bedeutet.

Eine so beklemmende Ausschließlichkeit formt den Charakter. Wer ihr beim Spielen zusieht, kann vermuten, daß sie über einem Abgrund existiert und die künstlerische Arbeit das darüber gespannte Seil ist. Mit schwebender Gelassenheit darauf zu tändeln entspricht nicht ihrem Temperament. Daran lassen die anderthalb Stunden des filmischen Porträts keinen Zweifel. Es liegt ihr nicht, Leistung und Aura getrennt zu verwerten. Da spielt sie lieber die Orgel zum Gottesdienst, den ein pakistanischer Priester in der Kirche von Wetzikon leitet. Oder quält sich daheim mit einer verschroben-unwilligen Klavierschülerin ab.

Herkunft läßt sich nicht wählen. Sie hängt einem an. Mit der Internats- und Konservatoriumszeit hat Alena Cherny abgeschlossen. Doch der Musikschule ihres Heimatdorfes will sie einen Flügel schenken. Der schwebt zu Beginn des Filmes aus dem Fachwerkbau und wird durch einen regnerischen Abend abtransportiert. Das feuchte Pflaster glänzt im Laternenlicht, als der Lastkraftwagen aus dem Grundstück biegt. Im Zollfreilager von Kiew wird die Holzkiste geöffnet und das Instrument mit dem Bus bis in den Heimatort Romny gefahren.

Der Blick auf Kiew, wo die Heranwachsende zehn Jahre ihres Lebens im Internat verbrachte, ereignet sich aus einer touristischen Perspektive. Es wird deutlich, daß ihr der einstige Ort des Leidens und Werdens fremd geworden ist, obgleich vieles hier beim alten blieb. Ein Ausflug führt an Tschernobyl vorbei in den gespenstischen Sperrbezirk der geräumten Geisterstadt Prypjat. Das verlassene Riesenrad zwischen den leeren Wohnhochhäusern wird zum Symbol eines gigantischen Schiffbruchs. Sie verwendet hierzu Worte von der Art, die sie später bei der Wiederbegegnung mit der Mutter als „pseudopathetisch“ abtun wird.

Mit der gleichen Ausgangslage ließe sich ein unerträglich larmoyanter Film gestalten, eine der vielen Wahrheitserfindungen, in denen alle Klischees zu einer funkelnden Perlenschnur gereiht sind. Dieser amerikanische Weg des Filmens liegt dem Regisseur Christian Labhart nicht. Der Schweizer folgt mit trockener Gelassenheit seiner Protagonistin und verzichtet auf jede aufdringliche Deutung oder auch nur Verdeutlichung von Zusammenhängen. Denn Cherny formuliert es selbst ungewiß: „Für das Klavierspielen habe ich einen hohen Preis bezahlt. Ob sich dieser lohnt, diese Frage stand am Anfang meiner filmischen Reise ...“

Das menschliche Leben erscheint darin zuletzt nicht als ein Entweder-Oder von Erfüllung und Versagung, sondern umfaßt es sowohl als auch. So bekennt sie, daß der Druck ihr zwar die Kindheit raubte, bemerkt aber auch: „Ich liebe das Klavierspielen, bin verbunden mit meinem Flügel. Wenn er nicht da ist, fehlt mir alles.“ Ihre schmerzliche Anmutung beim Spiel ist grundiert von dieser widersprüchlichen Erfahrung.

Deutlich genug bedeutet das kultivierte Talent mehr als nur einen Ersatz für den Verlust der elterlichen Fürsorge. Andernfalls wäre jede Kulturleistung nur eine erstaunliche pathologische Kompensation. Unsere westliche Gesellschaft der Selbstverwirklichung freilich neigt sich immer stärker dieser Diagnose zu. Anstatt die Traurigkeit zu zerstreuen oder abzuschaffen, nimmt die einstige erste Klavierlehrerin der kleinen Alena ihre Zuflucht in ein Gedicht von Sergej Jessenin. Darin heißt es: „Welkend muß man goldne Blätter tragen.“

Diese Joanna Grunowitsch ist die stärkste Persönlichkeit des Films. Großzügig und wissend. Die erfolgreiche Schülerin mit dem Kamerateam nötigt sie dazu, an ihrem unglaublich verstimmten Klavier Chopin zu spielen. Es klingt wie ein ramponiertes Orchestrion. Doch die Alte zieht es tapfer durch. Und sie wirkt dabei dennoch nicht so automatenhaft wie das neue Wunderkind, das sich zuvor in der Musikschule mit makellosem Spiel an dem perfekten Geschenk bedankte. Denn die Musik ist in Joanna Grunowitsch.

Vielleicht ist diese erste zugleich die wichtigste Lehrerin gewesen. Das Lächeln und die trockene Schlußbemerkung der weißhaarigen Dame: „Verzeih mir, Chopin!“ läßt keinen Zweifel daran, daß sie die Situation durchschaut hat. Die Mutter der Künstlerin dagegen spricht bald nur mehr mit der Kamera, und ihre Ausführung endet mit einer quälenden formalisierten Danksagung. Am Schluß erschließt sich dem Betrachter diese Filmreise als eine freiwillige Fortsetzung des ehrgeizigen Projektes, welches die Mutter mit ihrem neunjährigen Kind begonnen hat.

www.appassionata-film.de

Alena Cherny: „Für das Klavierspielen habe ich einen hohen Preis bezahlt“

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