© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/13 / 05. Juli 2013

Tief eingewurzelte soziale Realitäten
Asfa-Wossen Asserate liebenswürdige Untersuchung der deutschen Tugenden von Anmut bis Weltschmerz
Karlheinz Weissmann

Seit einiger Zeit ist es wieder möglich, Freundliches über die Deutschen zu sagen, über ihre Seele (Richard Wagner und Thea Dorn) und sogar über ihren Genius (Peter Watson), und damit Bestseller zu plazieren. Es überrascht deshalb kaum, wenn nun auch die „deutschen Tugenden“ an der Reihe sind. Asfa-Wossen Asserate, der Prinz aus äthiopischem Kaiserhaus, seit langem unter uns lebend und mit erstaunlichem Wohlwollen sein Gastland betrachtend, hat ihnen ein Büchlein gewidmet, das in kürzeren oder längeren Abschnitten den angeblichen oder tatsächlichen Tugenden unserer Nation auf den Grund zu gehen sucht.

Die deutsche Seele hat Gänge und Zwischengänge

Was damit zu leisten ist, zeigt der Verfasser besonders schön an dem ersten Abschnitt über die „Anmut“. Normalerweise wird man die Anmut nicht als typisch deutsch betrachten, aber Asserate verweist mit einer Kombination aus literarischen und historischen Quellen samt eigenen Beobachtungen auf lauter gute Gründe, warum man es doch tun sollte, warum in Sonderheit die deutschen Frauen es verdienten und verdienen besungen zu werden und die Geringschätzung im Vergleich mit einer Französin, Italienerin, Polin ganz unangemessen ist.

Gleichzeitig kommt der Autor darauf, daß die Tugend der Anmut heute stärker als früher gefährdet wirkt, was mit jenen spezifischen Lastern zu tun hat, die unsere Zeit nährt, indem sie der Formlosigkeit und der Neigung, sich gehenzulassen, alle möglichen Entschuldigungen liefert. Die Beobachtungen, die Asserate in deutschen Fußgängerzonen macht, lassen sich jedenfalls von jedermann zu jeder Tagesstunde wiederholen und zwingen zu dem deprimierenden Schluß, daß die Anmut weder durch Armut noch durch Not so sehr in Gefahr gerät wie durch Wohlstand, Bequemlichkeit und das Fehlen von Haltung.

Natürlich erschöpft sich der Reiz einer Abhandlung über deutsche Tugenden nicht in solchen Feststellungen, worauf Asserate schon in der Einleitung hinweist, wenn er Nietzsche mit den Worten zitiert: „Die deutsche Seele hat Gänge und Zwischengänge in sich, es gibt in ihr Höhlen, Verstecke, Burgverliese; ihre Unordnung hat viel vom Reize des Geheimnisvollen; der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege zum Chaos.“ Aber die dunkle Seite tritt doch zurück, bleibt fast beschränkt auf die Betrachtung über den „Weltschmerz“, während die helle, mitsamt dem positiven Verweis auf die „preußischen“ als Teil der deutschen Tugenden überwiegt und neben den erwartbaren Stichworten (Bescheidenheit, Erfindergeist, Fleiß, Gemütlichkeit, Naturverbundenheit, Ordnungsliebe, Pflichtgefühl, Pünktlichkeit, Reinlichkeit, Sparsamkeit, Treu und Redlichkeit) einige fast vergessene (Gottesfurcht, Musikalität, Trinkfestigkeit) und einige unerwartete (Freiheitsliebe, Humor, Maßhalten oder Toleranz) stehen.

Asserates aktuelle Buch, wie seine früheren, unterhält gut und der Leser fühlt sich angenehm belehrt. Wenn überhaupt, dann hat es nur einen Mangel, und den teilt es mit ähnlichen Veröffentlichungen. Das ist der Eindruck, als ob es sich um lauter Abgesänge handelt. Es scheint ungefährlich geworden zu sein, wohlwollend über die Deutschen zu sprechen, weil sie ihre Kenntlichkeit einbüßen, es sie über kurz oder lang nicht mehr geben wird oder sie jedenfalls nichts mehr von dem problematischen politisch-militärisch-kulturellen Komplex haben, der sie einmal waren.

Diese Beobachtung ist bei Asserate überdeutlich an dem Abschnitt zu erkennen, in dem er über die Trauer spricht. Sehr berührend erzählt der Verfasser von den mit dem Tod verbundenen Sitten, die er in den sechziger Jahren auf dem Land noch kennengelernt hat. Aber es darf sehr bezweifelt werden, daß sich diese Erfahrung heute wiederholen ließe, weil Modernisierung, Verstädterung, aber auch die willentlich-wissentliche Zerstörung der Tradition kaum etwas von den früheren Beständen übergelassen haben.

Man muß darin keinen spezifisch deutschen Vorgang sehen, er betrifft auf die eine oder andere Weise jede überlieferte Form des Zusammenlebens, die Völker wie die Glaubensgruppen, die Familien wie die Dorfgemeinschaften, aber sie wirkt sich so dramatisch aus, weil Tugenden Teile des Habitus sind, der vorgelebt und eingeübt werden muß, kein Kanon der Werte – oder „Ideale“, wie Asserate schreibt –, zu dem man sich mehr oder weniger unverbindlich bekennt, sondern Aspekte einer tief eingewurzelten sozialen Realität, die nach ihrem Absterben kaum wiederzubeleben sind.

Asfa-Wossen  Asserate:  Deutsche Tugenden. Von Anmut bis Weltschmerz. C.H. Beck, München 2013, gebunden, 239 Seiten, 17,95 Euro

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