© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/13 19. Juli / 26. Juli 2013

EU-Beitritt der Türkei
Überflüssig und unverantwortlich
Norbert Geis

Die kulturellen und politischen Unterschiede zwischen der Türkei und den christlich-abendländischen Demokratien Europas sind unübersehbar. Während in Europa religiöse Minderheiten geschützt sind, ist eines der ältesten Kloster der Christenheit, Mor Gabriel im Südosten der Türkei, ständigen Repressalien der türkischen Verwaltung ausgesetzt. Die vergangenen Wochen haben nochmals besonders deutlich gemacht, warum ein EU-Beitritt der Türkei unverantwortlich wäre. Über 2,5 Millionen Türken haben sich an den Protesten gegen die Politik von Premier Recep Tayyip Erdoğan beteiligt. In 79 von 81 türkischen Provinzhauptstädten gab es Demonstrationen, die oft gewaltsam von der Polizei niedergeschlagen wurden.

Die Bilder von den Unruhen rund um den Gezi-Park in Istanbul gingen um die Welt, während im türkischen Fernsehen Kochshows und Tierfilme liefen. Die Polizei geht auf brutale Weise gegen friedliche Demonstranten vor, während sich die Medien im Land aus Angst vor staatlichen Sanktionen selbst zensieren. Erdoğan spielt die massiven Proteste der eigenen Bevölkerung als vom Ausland gesteuerte Aktionen unbedeutender Minderheiten herunter. Nachdem die deutsche Bundeskanzlerin das brutale Vorgehen der Behörden kritisiert hatte, wurde sie selbst zur Zielscheibe türkischer Drohungen.

Dieses Verhalten der Regierung Erdoğan sollte auch dem letzten Beitrittsromantiker die gravierenden Unterschiede in der politischen Kultur der Türkei und Europas deutlich machen. Das türkische Militär hat heute zwar weniger politischen Einfluß und die türkische Wirtschaft entwickelt sich seit Jahren sehr gut. Insofern ist die Türkei sicherlich viel weiter als etwa Ägypten. Diese Fortschritte haben jedoch kaum etwas an der politischen Kultur in der Türkei geändert. Demokratie bedeutet nicht bloß freie Wahlen, sondern auch Presse-, Meinungs- und Demonstrationsfreiheit ebenso wie Minderheitenschutz, Pluralismus und säkulare Staatsführung.

Die Türkei unter Erdoğans islamischer AK-Partei ist meilenweit von diesen demokratischen Grundprinzipien entfernt. Trotzdem ist die Partei nach wie vor beliebt, vor allem in der konservativ-moslemischen Landbevölkerung. Das macht den notwendigen tiefgreifenden Wandel in der Türkei auf lange Sicht äußerst unwahrscheinlich und Beitrittsverhandlungen in meinen Augen überflüssig.

 

Norbert Geis, CSU, ist Rechtsanwalt und seit 1987 Mitglied des Deutschen Bundestages.

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