© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/13 19. Juli / 26. Juli 2013

„Es ist hier einfach urgemütlich“
Zwischen Pfälzerwald, Rhein und Vogesen: Das Elsaß verdankt seinen Charme deutsch-französischen Kultureinflüssen
Hinrich Rohbohm

Die Fahrt ist kurz. Mit der Bahn nur ein Sprung über den Rhein. Hinüber von Deutschland nach Frankreich. Doch schon am Straßburger Bahnhof kommen Zweifel auf. Das zweistöckige Empfangsgebäude erweckt den Eindruck, als könne es auch in Berlin stehen.

In der Tat ist der mit Buntsandstein aus den Vogesen gefertigte Bau ein Relikt aus der wilhelminischen Kaiserzeit. Zwischen 1878 und 1883 wurde er von dem Berliner Architekten Johann Jacobsthal erbaut, nachdem der alte Kopfbahnhof im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zerstört worden war.

Heute umgibt eine futuristisch anmutende Glaskuppel das inzwischen sogar mit einer Fußbodenheizung ausgestattete Gebäude. Bis zu 900 Tonnen ist sie schwer. „Cool, das Ding sieht aus wie ein Ufo“, meint Marc zu seiner Freundin Janine, die gleich ein Bild von dem unwirklich erscheinenden Ungetüm mit ihrer Handy-Kamera festhalten will. Die beiden 18 Jahre alten Schüler wollen im nächsten Jahr ihr Abitur machen. „Aber das ist jetzt ganz weit weg. Wir haben schließlich gerade Ferien bekommen“, erklärt Janine.

Ihr Plan: Eine Tour quer durch Frankreich. Das Elsaß ist ihre erste Station. „Ich bin schon jetzt beeindruckt, obwohl wir erst seit einem Tag hier sind“, gibt sie zu. „Eigentlich wollten wir ja durch diese Reise auch unsere Französisch-Kenntnisse vertiefen“, beginnt Marc zu erzählen. „Aber man scheint uns irgendwie immer als Deutsche zu erkennen“, scherzt seine Freundin. „In nahezu jedem Restaurant, jedem Café und an jedem Eisstand ist uns unterbreitet worden, daß man auch Deutsch spreche“, schildert sie die Erlebnisse der beiden. Auch sonst sei ihnen der deutsche Anteil am Stadtbild nicht entgangen. „Es gibt hier noch total viele Läden mit deutschen Namen“, sagt Marc. Und auch die Fachwerkbauten im Gerberviertel stellen für ihn „noch nicht Frankreich pur“ dar.

Verwunderlich ist das nicht. Das Elsaß ist über die Jahrhunderte sowohl von deutschen als auch französischen Einflüssen geprägt worden. Obwohl sich die französische Sprache in der Region inzwischen faktisch durchgesetzt hat, ist das Elsässer-Deutsch noch immer vorhanden.

In der Straßburger Altstadt wird das auch anhand der Straßennamen deutlich. Die Rue du Bain-aux-Roses ist gleichzeitig auch als elsässerdeutsche Rosebadgass ausgewiesen, Quai au Sable als Sandplätzel und die Pont du Faisan als Fasanenbrückel beschildert. Auf dem Kléber-Platz befindet sich der Fotoladen Seif ebenso wie der Visagist Weber, das Restaurant Zuem Stadtwappe oder die Gastronomien Schutzenberger, Gutenberg und Gruber.

Doch vor allem der Gang durch das Gerberviertel ist sehenswert. Alte, zum teil urig-schiefe und verwinkelte Fachwerkbauten, weiß verputzt und mit braunen Holzbalken durchzogen, erwecken den Eindruck, als befände man sich im Mittelalter. Zumal der größte Teil von „La Petite France“, wie der Franzose das Viertel nennt, autofrei ist. Ein besonderer Augenschmaus ist die 1572 erbaute „Gerwerstub“, die mit ihren zahlreichen Gauben, den roten Blumen in den Fenstern und den alten Dachschindeln wie aus einem Märchen entsprungen zu sein scheint. Dabei ging es dort einst alles andere als märchenhaft zu. Das Viertel galt sogar als äußerst unbeliebt. Denn die Gerber spannten hier einst ihre Häute und Felle. Und verbreiteten dadurch einen äußerst üblen Geruch. Es war die Gegend, in der Gauner und Banditen Unterschlupf fanden und das Rotlichtmilieu florierte.

Heute floriert hier vor allem der Tourismus. Der Gestank ist den Düften elsässischer Küche gewichen, von deren Speisen besonders der Flammkuchen als regionale Spezialität gilt. Serviert wird er in den verschiedensten Varianten. Nicht auf einem Teller, sondern auf dem Küchenbrett. Und das nahezu an jeder Ecke in den zahlreichen verwinkelten Gassen von Petite France, dessen im 16. und 17. Jahrhundert errichtete Fachwerkhäuser heute nahezu vollständig saniert wurden.

Schräg gegenüber vom Gerberhaus, dem „Maison des Tanneurs“, wie es die Franzosen nennen, befindet sich die kaum weniger bilderbuchartige einstige Gerber-Taverne Lohkäs, die aus dem Jahr 1651 stammt. „Es ist fast wie auf einer Zeitreise“, meint Janine, die das Gerberviertel in Straßburg am meisten beeindruckt hat.

„Toll ist auch, daß man immer an der Ill entlang die Altstadt umrunden kann, schwärmt auch ihr Freund Marc. Das geht zum einen zu Fuß. Denn entlang des die Altstadt umfließenden Flusses ist ein schöner Wanderweg angelegt, auf dem man gelegentlich unter verträumten Trauerweiden hindurchläuft, während sich einem rechts und links immer wieder Panoramablicke auf das Wasser und die Altstadt eröffnen.

Etwa auf das alte Lyceum, eine Höhere Mädchenschule, erbaut zur wilhelminischen Zeit. Ein kleines Schlößchen, das sich direkt am Fluß befindet, auf dem sich zudem zahlreiche Möglichkeiten finden, um mit einem der Touristenboote auf dem Wasserweg die Insel zu umrunden.

Auch der alte Kaiserpalast liegt auf dieser Strecke. Erbaut in der Zeit zwischen 1884 und 1889 sollte er einst als Symbol für die dauerhafte Angliederung Elsaß-Lothringens an das Deutsche Reich gelten. Gebaut wurder er anläßlich des 87. Geburtstags von Kaiser Wilhelm I. Dessen Thronnachfolger Wilhelm II. hielt sich hier bis 1914 mindestens einmal jährlich auf. Allerdings, so heißt es, soll er sich über den pickelhaubenartigen Kuppelbau nicht gerade charmant geäußert haben. Weil es ihn an das Elefantenhaus im Berliner Tiergarten erinnert habe, soll er das Gebäude etwas abfällig als „Elefantenstall“ tituliert haben.

Das während des Zweiten Weltkriegs durch amerikanische Bombardierungen stark beschädigte Gebäude ist mittlerweile gründlich saniert worden. Heute fungiert es als Sitz zweier französischer Behörden. Statt Kaiserpalast heißt das Gebäude nun Rheinpalast. Vor fünf Jahren diente es zudem in Form eines Gestapo-Hauptquartiers als Kulisse des mehrteiligen französischen Fernsehfilms „La Résistance“.

Vor dem Palast befindet sich auf dem ehemaligen Kaiserplatz und heutigen Platz der Republik jedoch noch immer der prachtvoll angelegte Garten, der schon zu wilhelminischen Zeiten Eindruck gemacht haben muß. Hier schlug gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Herz der kaiserlichen Regierungsgewalt. Denn nicht weit vom Palast entfernt lag damals der Landtag von Elsaß-Lothringen, das heutige Nationaltheater von Straßburg, sowie die damalige Reichslandverwaltung.

Auch die Straßburger Universität ist von Deutschen maßgeblich geprägt worden. Einst aus einem protestantischen Gymnasium hervorgegangen, wurde sie 1538 von dem Humanisten Johannes Sturm gegründet. Unter anderem hatte hier Johann Wolfgang von Gorthe 1770/71 Jura studiert. Nicht zuletzt deshalb, weil sein Vater der Meinung gewesen war, daß sein zuvor in Leipzig studierender Sohn sich dort mehr dem Kneipenleben widmete als der wissenschaftlichen Lehre.

Ob sich das in Straßburg änderte, dürfte für den Besucher der heutigen Zeit schwer vorstellbar sein, angesichts der Fülle an Wirtshäusern und Restaurants in der Altstadt. Jedenfalls wirkten an der Universität noch weitere prominente Deutsche. Zu ihnen zählen unter anderem Persönlichkeiten wie Fürst von Metternich, Theobald von Bethmann Hollweg, Adolf von Baeyer, Wilhelm Conrad Röntgen, Friedrich von Moltke, Albert Schweitzer oder Carl Schmitt.

Nach dem Deutsch-Französischen Krieg und der Abtretung des Elsasses an Deutschland wurde die Bildungseinrichtung 1871 als Kaiser-Wilhelm-Universität neu gegründet. Jedoch hatten die Deutschen während des Krieges im Zuge der Belagerung der Stadt auch die Bibliothek bombardiert, eine der ältesten humanistischen Bibliotheken Europas.

Um diesen kulturellen Verlust auszugleichen liefen im gesamten Deutschen Reich Buchspenden an. Allein das Preußische Staatsarchiv in Königsberg überließ der Straßburger Bibliothek seinerzeit 70.000 Dubletten. Was dazu führte, daß die Einrichtung noch heute als eine der größten deutschen Bibliotheken gilt. Was Größe anbetrifft, so hatte im späten Mittelalter auch das Straßburger Münster im Zentrum der Altstadt Superlativen anzubieten. Das katholische Gotteshaus zählt zu den bedeutendsten Kathedralen Europas und zu den größten Sandsteinbauten der Welt. Sogar vom Schwarzwald aus soll es noch zu sehen sein, erzählen Einheimische.

Errichtet wurde das sowohl deutsche als auch französische Baustile enthaltende Münster zwischen 1176 und 1439. Sein Turm ist 142 Meter hoch. Im Spätmittelalter galt es als das höchste Gebäude der Welt. Der ihn umschließende Münsterplatz zählt zudem zu den schönsten Stadtplätzen Europas. Nicht zuletzt aufgrund des an der Nordseite des Platzes gelegenen Kammerzellhauses, einem 1427 erbauten Fachwerkbau, der zu den schönsten der deutschen Spätgotik zählt. Wie in so vielen der wie aus einer Puppenlandschaft entsprungenen Fachwerkgebäude befindet sich auch im Kammerzellhaus ein Restaurant.

Doch das Elsaß ist nicht nur für sein Essen berühmt, sondern auch für seinen Wein. Auf einer Länge von über hundert Kilometern vom Nord- ins Südelsaß erstreckt sich sein Anbaugebiet am Fuße der östlichen Vogesen. Das elsässische Weinanbaugebiet besitzt einen AOC-Status. AOC, das heißt Appellation d’Origine Contrôlée und gilt als Qualitätssiegel. Erteilt wird es vom Institut national des appellations d’origine des vins et des eaux-de-vie (INAO). Um das AOC-Zertifikat zu erhalten muß die Weinherstellung ausschließlich auf traditionelle Weise erfolgen. Die Geschichte des Siegels reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück.

Über 300 Weingüter liegen an der Elsässer Weinstraße, eine der ältesten ihrer Art in Frankreich. Unter anderem führt sie an der Stadt Kolmar vorbei. Kein Wunder, daß in der mit 67.000 Einwohnern drittgrößten Stadt im Elsaß unzählige Weinstuben vorzufinden sind. Und selbstverständlich findet hier einmal im Jahr ein großes Weinfest statt. Schließlich wird der gerade einmal 30 Bahnminuten von Straßburg entfernte Ort auch als Hauptstadt der elsässischen Weine bezeichnet.

Zudem ist die Stadt aufgrund ihres gut erhaltenen architektonischen Erbes berühmt. „Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinsehen soll. Ein Haus ist schöner als das andere“, zeigt sich eine Rentnerin von Kolmar begeistert. Die 67jährige Gelsenkirchenerin ist als Touristin gemeinsam mit ihrem Mann und ihren zwei Enkelkindern aus dem Ruhrpott hergekommen. Das Elsaß hat es ihnen angetan. „Es ist hier einfach urgemütlich“, sagt sie. Und schießt gleich noch wie zum Beweis ein paar Fotos von der Brücke aus, auf der sie eine Reihe bunter und blumengeschmückter Fachwerkbauten aufnehmen kann.

Sie steht mitten in La Petite-Venise, dem Klein-Venedig von Kolmar, das an das alte Gerberviertel angrenzt und von den Elsässern als Krutenau, Kräuter-Aue bezeichnet wird. Die Kunst- und Weinliebhaberin aus Westfalen kommt hier voll auf ihre Kosten. Etwa im Unterlinden-Museum, das in einem Dominikanerinnenkloster untergebracht ist und in dem sich bedeutende Sakralkunst aus dem Mittelalter und der Renaissance befindet. Unter anderem der weltberühmte Isenheimer Altar von Matthias Grünewald. Auch das Pfisterhaus gilt als Sehenswürdigkeit.

Es wurde 1537 im Auftrag des Hutmachers Ludwig Scherer erbaut. Mit seinem Eckerker auf zwei Etagen, dem achteckigen Türmchen und seinem Mauerband, das biblische und weltliche Szenen zeigt, ist das Pfisterhaus ein Wahrzeichen Kolmars. Es ist nach der Familie benannt, die das Haus zwischen 1841 und 1892 bewohnte.

„Es ist einfach ein herrliches Gefühl hier in der Altstadt zwischen den schönen Fachwerkhäusern zu sitzen, einen schönen Weißwein zu trinken und den Trubel in den engen Gassen zu beobachten“, schwärmt die Rentnerin. Dabei haben es ihr vor allem die eleganten phantasievoll verzierten Ladenschilder der einzelnen Geschäfte angetan. „Da steckt so viel liebe zum Detail drin“, meint sie. Und zückt gleich wieder ihre Kamera hervor.

 

Geboren im Elsaß

Hans Arp (1886–1966), Maler, Bildhauer und Lyriker, Vertreter des Dadaismus und Surrealismus

Julius Leber (1891–1945), SPD-Politiker, Reichstagsabgeordneter und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus

Albert Schweitzer (1875–1965), Arzt, evangelischer Theologe , Philosoph und Friedensnobelpreisträger

Philipp Jacob Spener (1635–1705), lutherischer Theologe, Vertreter des Pietismus, Begründer der Heraldik

 

Infos im Internet

Die offizielle Tourismus-Netzseite des Elsaß: www.tourisme-alsace.com/de

Online-Reiseführer: www.reisetipps-elsass.com www.elsass-netz.de www.france-voyage.com www.elsass-weinstrasse.com

Fotos: Land der kulinarischen Genüsse: Wein und Flammkuchen zählen zu den Spezialitäten der Region. Allein entlang der Elsässer Weinstraße existieren mehr als 300 Weingüter. Der Flammkuchen wird in den verschiedensten Variationen auf dem Küchenbrett serviert; Allein seine Größe ist imposant und gebietet Ehrfurcht: Mit seinem 142 Meter hohen Turm war das Straßburger Liebfrauenmünster während des 17. Jahrhunderts das höchste Gebäude der Welt.; Schmiedekunst in Egisheim an der Elsässischen Weinstraße, einem der „schönsten Dörfer Frankreichs“; Romantisches Schlemmen am Wasser zwischen Fachwerk und Blumen: Im Straßburger Gerberviertel genießt der Gast seine Gaumenfreuden vor einer atemberaubenden mittelalterlichen Bilderbuch-Kulisse ; Venedig auf französische Art: Das Krutenau-Viertel von Colmar (rechts) und die Straßburger Altstadt an der Ill (links)

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen