© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/13 19. Juli / 26. Juli 2013

Augen zu und durch
Japan: Angesichts einer sich selbst zerfleischenden Opposition haben die konservativen Liberaldemokraten Chancen, die Wahl zu gewinnen
Albrecht Rothacher

Ikebukuro ist ein großer Umsteigebahnhof im Westen Tokios. Tausende hasten an diesem Samstagmittag vorbei. Nur wenige nehmen Notiz von der zierlichen alten Dame, die auf dem Vorplatz auf einem Lautsprecherwagen stehend ihre Wahlkampfrede hält.

Sie ist die Oberhausabgeordnete Momiyo Kamo (65), eine frauenbewegte Gewerkschaftsfunktionärin, die für die zur Splitterpartei geschrumpften Sozialdemokraten am 21. Juli wiedergewählt werden will. Sie wettert gegen die Ungerechtigkeiten von „Abenomics“, das Wirtschaftsprogramm der LDP-Regierung. Es begünstige die Unternehmensgewinne und mache die Rentner und Arbeiter durch die geplante Inflation und die erhöhten Verkaufssteuern ärmer.

Danach spult sie das Traditionsprogramm der Sozialisten ab: gegen die Änderung der Friedensverfassung, gegen die Atomenergie, für höhere Sozialausgaben und Mindestlöhne, für Frauen- und Minderheitenrechte.

Fünfzig Meter weiter wartet der jung und agil wirkende Miki Watanabe von der konservativen LDP neben seinem Lautsprecherwagen geduldig auf das Ende von Frau Kamos vorgeschriebener Redezeit. Dann ist er an der Reihe. Er verspricht den sofortigen Wiederaufbau der vom Tsunami verwüsteten Nordostküste Japans, die Belebung der Wirtschaft und die Stärkung der Bildungs- und Sozialsysteme.

Auch ihm hört kaum jemand zu. Diskussionen gibt es keine. Weder im Publikum noch mit den Rednern. Sie verbeugen sich schließlich mehrmals, bitten höflichst um Wählerstimmen und fahren dann mit ihren Helfern zum nächsten Großbahnhof.

Nach allen Umfragen werden Herr Watanabe und seine Liberaldemokraten die Wahlen, bei denen die Hälfte der 242 Oberhaussitze für sechs Jahre neu vergeben werden, haushoch gewinnen und die zerstrittene Opposition von Frau Kamo ebenso verlieren. Verkehrte Welt in Japan.

Die Konservativen haben erneut – zum fünfzehnten Mal – ein massives Verschuldungsprogramm aufgelegt, die Wirtschaft mit Geld geflutet und lassen die Nationalbank 70 Prozent aller neuen Staatsschuldverschreibungen aufkaufen: vulgo mit Geldrucken finanzieren. Die Linke wirft ihnen den desolaten Zustand der Staatsfinanzen vor. Die Preise ziehen an – vor allem für importierte Energie und Lebensmittel – und die Löhne bleiben eingefroren.

Dennoch ist Premier Shinzo Abes Programm populär. Bei einem Weltrekord an Staatsschulden (245 Prozent des BIP) scheint es wie bei seriellen Lebensabschnittspartnerschaften: Das Prinzip Hoffnung siegt über die Erfahrung. Das sei Japans letzte Chance, meinen auch Ökonomen und Elitebeamte, die es besser wissen müßten, das vergreisende und an Einwohnern schrumpfende Land aus der Stagnation und Deflation herauszuführen. Genannt werden zwei Prozent Inflation, die Yen-Abwertung und ein neuer Wachstumsschub. Wie Wachstum in einem um 300.000 Menschen jährlich sich vermindernden Land mit schrumpfender Kaufkraft und Innovationsproblemen dauerhaft werden soll, bleibt unerfindlich.

Dennoch spielt die Opposition kaum eine Rolle. Sie kann sich in den Präfekturwahlkreisen nicht auf gemeinsame Kandidaten einigen und verschenkt damit den Sieg an die LDP. Die Mitte-Links- Sammlungspartei der Demokraten, die in den drei Jahren ihres Regierungschaos drei Premiers verschliß und sämtliche Wahlversprechen brach, ist demoralisiert und diskreditiert.

Der wirtschaftliche Linksschwenk der LDP jagt ihr die Wähler ab. Die beiden rechtsliberalen Parteien namens „Your Party“ und Japanische Erneuerungspartei sind nach Anfangserfolgen zerstritten und beinahe unter die Wahrnehmungsschwelle gerutscht. Denn in Sachen Patriotismus läßt sich Shinzo Abe auch nicht übertreffen.

Profitieren könnten bei der erwarteten niedrigen Wahlbeteiligung von wahrscheinlich weniger als 50 Prozent neben der LDP mit ihren traditionellen Stammwählern nur die gut organisierte Komei-Partei der buddhistischen Soka- Gakkei-Sekte und die Kommunisten, die als Protestpartei der Zukurzgekommenen zu allem nein sagen und mit niemandem zusammenarbeiten wollen.

Nach seinem Wahlsieg wird Premier Abe sichere Mehrheiten in beiden Häusern haben und könnte drei Jahre lang ungestört arbeiten. Er hätte die Macht, entweder wie angekündigt Wirtschaftsreformen durchzusetzen. So die starren Arbeitsmärkte zu reformieren, die hohen Unternehmenssteuern zu senken, das Investieren attraktiver zu machen und die teuren Privilegien der Bauindustrie, der Ärzteschaft und der Agrargenossenschaften, – allesamt Stammwähler und Finanzierer seiner Partei – zu beschneiden.

Shinzo Abe könnte aber auch seinem Lieblingsprojekt frönen: der Änderung der von den US-Besatzern 1946 geschriebenen Verfassung, die die japanische Armee und Japans Wehrhoheit endlich legitimieren würde. Der pazifistische Koalitionspartner der Komeito stünde dafür wahrscheinlich nicht zur Verfügung, wohl aber die beiden kleinen Rechtsparteien, die für eine gemeinsame Zweidrittelmehrheit bei diesen Wahlen aber zu schwach abschneiden werden.

Möglicherweise hat Abe aber gar nicht so viel Zeit. Er könnte nach seinem Wahlsieg nach einer Schamfrist und ersten Anzeichen von Schwäche von seinen Parteifreunden umstandslos gemeuchelt werden. Dieses Vorgehen ist in der Parteigeschichte der fraktionierten LDP durchaus ein gängiges, mitleidsloses Verfahren.

Foto: Premier Shinzo Abe ringt um jede Stimme: Eine lächelnde Frau an der Seite erhöht die Wahlchance

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