© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/13 19. Juli / 26. Juli 2013

Auch Tante Emma kauft übers Internet
Handel: Lebensmittel- und Baumärkte steigern Umsätze / Mode-, Musik- und Elektronikläden schließen
Markus Brandstetter

Es ist nichts Welterschütterndes passiert“, meinte Karstadt-Sprecher Heiko Philipp 1974, als das novellierte Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in Kraft getreten war. Die Änderungen eliminierten die letzten Reste der Preisbindung der zweiten Hand. Seither unterliegen im Einzelhandel nur noch Tabakwaren, rezeptpflichtige Medikamente und Verlagserzeugnisse der staatlichen Preisbindung. Das freute die Kunden – und nutzte vor allem den Großen der Branche. Tante-Emma-Läden, aber auch alteingesessene Mittelständler kapitulierten hingegen reihenweise.

Welterschütterndes passierte Karstadt erst 35 Jahre später – die traditionsreiche Warenhauskette mußte Insolvenz anmelden. Der 2010 erfolgte Verkauf an Nicolas Berggruen verschaffte den 87 verbliebenen Kaufhäusern und den Beschäftigten eine Atempause – doch am Grundproblem des deutschen Einzelhandels kann auch der US-Investor nichts ändern: Die Käufer wandern scharenweise zum Internethandel ab. Die Geschäfte und Fußgängerzonen sind zwar voll und im Mai haben die Einzelhändler ihren Umsatz im Vergleich zum Vormonat sogar um 1,1 Prozent gesteigert. Aber wo ist der Umsatz gestiegen?

Amazon verbuchte voriges Jahr einen Zuwachs von 21 Prozent, Zalando verdoppelte sogar die Erlöse. Die Otto-Gruppe wuchs immerhin im einstelligen Prozentbereich. Auch Aldi, Lidl, Rewe & Co. legten zu. Selbst Baumärkte – vom Sonderfall Praktiker abgesehen – melden Umsatzsteigerungen zwischen einem und fünf Prozent. Dagegen schrumpfen die Umsätze im klassischen Einzelhandel und in den Warenhäusern. Die größten Einbußen verzeichnen Buch- und Schmuckhändler, Mode- und Sportgeschäfte und die gesamte Musik- und Elektronikbranche bis hin zu Foto- und Hi-Fi-Läden. Selbst Mediamarkt und Saturn kämpfen mit Umsatzrückgängen. Prominente Namen wie Quelle oder Hertie verschwanden komplett.

Ob beim Modehaus Esprit, der Buchkette Thalia und den Görtz 17-Schuhläden – überall werden Filialen geschlossen, das Angebot gestrafft und Sanierungsmaßnahmen eingeleitet. Das einzige, was gut läuft, sind Edelhäuser wie das KaDeWe in Berlin, das Alsterhaus in Hamburg und Oberpollinger in München. Die drei gehören zur eigenständigen Karstadt Premium GmbH.

Dabei sind die Deutschen so kauffreudig wie selten. Doch ihr Geld lassen sie zunehmend bei den Versandhändlern. Angefangen hat es vor 15 Jahren mit Büchern, CDs und Filmen. Doch der heimische Internetzugang machte schließlich selbst dicke Kataloge von Neckermann & Co. überflüssig. Inzwischen kann fast alles im Netz geordert werden: vom Rasenmäher bis zur Wandfarbe, vom Parmaschinken über Katzenfutter bis zur Schrankwand, vom Flachbildfernseher bis zur Herztablette.

Seit dem Jahr 2000 sind die deutschen Internetumsätze um 1.300 Prozent gestiegen. Für dieses Jahr rechnet der Handelsverband HDE mit einer Steigerung von zwölf Prozent auf dann 33,1 Milliarden Euro. 2011 wurden 6,4 Prozent des gesamten Einzelhandelsumsatzes im Internet gemacht, 2016 sollen es um die elf Prozent sein. Der Grund, der auch 25 Prozent Umsatzanteil realistisch erscheinen läßt, heißt Bequemlichkeit. Es gibt keine Feiertage und Ladenschlußzeiten, das Einkaufen erfolgt per Mausklick. Die Ware wird an die Haustür oder zur Packstation gebracht – oft schon am nächsten Tag.

Aber fehlt dabei nicht das Einkaufserlebnis, das Berühren, das Ansehen der Ware, die Beratung durch die Verkäuferin? Manchmal schon, aber das bietet ja weiter der – noch – existierende Handel. Immer mehr Kunden probieren die Schuhe oder die Hose im Geschäft an – nur kaufen sie dies dann bei Zalando & Co. Dort ist es meist billiger, man kann zehn Paar bestellen und den Rest kostenlos zurückschicken – was die langen Schlangen in den Postfilialen erklärt.

Immer öfter treffen Kunden die Kaufentscheidung im stationären Handel, tätigen den Kauf aber übers Internet ab. Hinzu kommt: viele Produkte sind dermaßen standardisiert und bekannt, daß ein Anfassen unnötig ist. Jeder weiß, wie ein Flachbildfernseher aussieht, jeder kennt die zehn wichtigsten Marken, und da sich sowieso fast jeder via Internet vor dem Kauf über Produkteigenschaften, Testergebnisse und Produktbewertungen informiert, kann er das gute Stück gleich dort bestellen. Wo soll das alles hinführen? Die Antwort ist klar: Das Sterben im Einzelhandel, der Druck auf Umsätze und Margen, die Firmenpleiten und die Entlassungen werden noch viele Jahre weitergehen. Der traditionelle Einzelhandel kann bei den Kosten mit dem Onlinehandel nie mithalten. Die relativ wenigen Beschäftigten in den fußballfeldgroßen Versandlagerhäusern bewegen an einem Tag mehr Waren als alle Geschäfte in einer deutschen Großstadt in einem Monat.

Gibt es in dieser Situation überhaupt noch Auswege? Zwei Möglichkeiten bieten sich dem traditionellen Einzelhandel: Luxus und Service. Was auch immer über das Internet verkauft wird – Brillanten-Colliers, Rolex-Uhren und Pelzmäntel sind nicht dabei. Ab tausend Euro überlegen es sich viele Kunden zweimal, ob sie per Mausklick bestellen – oder nicht doch lieber in einen echten Laden gehen und sich die teure Ware ansehen. Sie wollen das teure Stück in die Hand nehmen, anprobieren, prüfen und mit einem kompetenten Verkäufer darüber reden. Die Luxus-Schiene wird auch zukünftig eine der Säulen des traditionellen Einzelhandels bleiben, sie muß nur um ein Internetangebot sinnvoll ergänzt werden.

Der zweite Rettungsweg ist guter, kreativer Service. Ein Schuhhändler oder die Besitzerin eines Modegeschäftes besuchen ältere Menschen, die nicht mobil sind, zu Hause und bringen eine Auswahl aus ihrer Kollektion mit. Ein Kfz-Händler spezialisiert sich auf Senioren oder voll Berufstätige und bietet an, Autos bei Reparaturen abzuholen und wiederzubringen. Auch Elektronik- und Hausgerätehändler wenden sich an Kundengruppen, die nicht mehr ins Geschäft kommen können. Wenn sie im persönlichen Kontakt zu Hause den neuen „smarten“ Fernseher oder den elektronischen Küchenherd erklären, realisieren sie einen Service, den ein anonymer Internethändler nicht bietet.

Ob angesichts dessen die Media-Saturn-Holding in zehn Jahren noch die größte Elektronikfachmarktkette Europas und Thalia Marktführer im deutschsprachigen Buchhandel ist, darf bezweifelt werden. Ein Blick in die USA offenbart ebenfalls Welterschütterndes: Das zweitgrößte amerikanische Pendant, Circuit City, ging 2009 pleite. 2011 folgte Borders (CDs, DVDs, Bücher).

Dennoch tummeln sich beim verbliebenen Marktführer Best Buy (Umsatz 2012: 49 Milliarden Dollar, 165.000 Beschäftigte) immer weniger Käufer. Der Bilanzverlust betrug im vergangenen Geschäftsjahr fast ein halbe Milliarde Dollar. Amazon setzte mit nur 91.000 Mitarbeitern hingegen über 61 Milliarden Dollar um – Tendenz steigend.

Foto: Ausverkauf bei Buchhändler: Es gibt keine Ladenschlußzeiten, die Ware wird an die Haustür gebracht

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