© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/13 19. Juli / 26. Juli 2013

Verfechter der streitbaren Demokratie
Extremismusforschung als Lebensaufgabe: Der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse feiert am 26. Juli seinen 65. Geburtstag
Felix Dirsch

Eckhard Jesse ist als vorsichtig agierender Wissenschaftler bekannt. Als er sich vor einigen Jahren bei einem Interview dazu bekannte, JF-Leser zu sein, dann nur mit dem Zusatz „als Extremismusforscher“. Solche Verhaltensweisen werden begreiflich, wenn man die schweren Geschütze betrachtet, die seine Gegner gegen ihn in Stellung bringen. Als der Inhaber eines Lehrstuhles für politische Systeme an der Universität Chemnitz vor einem Jahrzehnt vom Bundesverfassungsgericht als einer der Gutachter im NPD-Verbotsverfahren bestellt wurde, höhnte der SZ-Journalist Heribert Prantl, mit dieser Entscheidung werde der „Bock zum Gärtner“ gemacht. Jesse sei – so das notorische Totschlagsargument – durch Verharmlosung rechtsextremistischer Umtriebe aufgefallen.

Die Logik derartiger Vorwürfe ist durchaus nachvollziehbar, wenn man die Ablehnung linksextremistisch-antifaschistischer Gedankengebäude aufgrund ihrer mehr oder weniger „entfernten Verwandtschaft“ (Wolfgang Schivelbusch) zum rechtsextremistischen Pendant als rezenten Indikator für Gesinnungsfeindschaft nimmt.

In der Tat hat Jesse bereits seit den späten siebziger Jahren die Debatte um „streitbare Demokratie“ und um die Beschäftigung von Extremisten im öffentlichen Dienst mit vielen Beiträgen bereichert. Stets arbeitete der Politologe die Äquidistanz des Grundgesetzes zu beiden politischen Extremen pointiert heraus, die die jeweilige zeitgenössische Variante von Nationalsozialismus und Kommunismus darstellten. Auf diese Weise gelang es ihm, die Quintessenz der Totalitarismusforschung der älteren Generation, von der Carl J. Friedrich, Karl-Dietrich Bracher und Hans Maier genannt seien, zu aktualisieren und in ihrer Bedeutung zu unterstreichen.

Jesse kann, nachdem er nun die Emeritierungsgrenze erreicht hat, auf ein produktives Gelehrtenleben zurückblicken. Viele Publikationen zu den Themen Demokratie und Demokratieschutz, politisches System der Bundesrepublik im allgemeinen, Reichstagsbrandforschung, Veröffentlichungen zu diversen zeitgeschichtlichen Fragen – um nur wenige zu nennen – verdankt ihm die Zunft. Besonders hervorzuheben sind seine Studien zur nüchternen Aufhellung des äußerst nebulösen Phänomens der sogenannten Neuen Rechten.

In den letzten Jahren hat er sich mehrmals in die Diskussion um ein neuerliches NPD-Verbotsverfahren eingeschaltet. Diesbezüglich vertritt Jesse eine klare und gut begründete Ansicht. Diese explizit systemoppositionelle Partei ist danach eindeutig außerhalb des Verfassungsbogens angesiedelt. Die Notwendigkeit eines Verbotes erschließt sich ihm aus dieser Erkenntnis jedoch nicht. Aus Opportunitätsgründen kann es sehr wohl klug sein, die Legalität aufrechtzuerhalten, um ein etwaiges Abdriften des harten Kerns der Anhängerschaft in den Untergrund zu vermeiden und die Gefahr einer neuerlichen, vielleicht sogar vergrößerten „NSU“ so gering wie möglich zu halten. In einem Aufsatz ist die Meinung des Extremismusforschers als Wortspiel dargestellt: Ein Verbot hält er für „kein Gebot“, das Gebot laute vielmehr „kein Verbot“.

Solche Auffassungen haben sich schon seit einiger Zeit auch bei der Antifa herumgesprochen. So störten vor einigen Jahren militante Autonome einen Vortrag des Ungeliebten an der Universität Leipzig. Immerhin zeigt dieser Vorgang dessen Prominenz in den betreffenden Kreisen.

Jesse, der „Brückenbauer zwischen Politik- und Geschichtswissenschaft“ (Uwe Backes/Alexander Gallus), hat nicht nur durch eine größere Zahl von wissenschaftlichen Arbeiten auf sich aufmerksam gemacht. Ferner hat er das Jahrbuch Extremismus und Demokratie vor über zwanzig Jahren ins Leben gerufen. Im Veldensteiner Kreis treffen sich zweimal im Jahr Doktoranden und Fachleute, um Fragen rund um den Extremismus zu klären. Auffallend sind die vielen Dissertationen, die er betreut hat. Unter den Promovenden befinden sich namhafte Wissenschaftler wie Steffen Kailitz und Alexander Gallus, aber auch die ehemalige hessische Landtagsabgeordnete Carmen Everts. Letztere gehörte zu den Rebellen, die eine SPD/Linke-Koalition unter Führung von Andrea Ypsilanti und damit einen klaren Wortbruch verhinderten.

Für Jesse, der als ungewöhnlich freundlich und zugänglich bekannt ist, wird die nunmehr anstehende, geringere Zahl von Verpflichtungen neue zeitliche Spielräume eröffnen. Man darf gespannt sein, wie sie gefüllt werden.

Foto: Eckhard Jesse wird gern zum Thema Extremismus befragt, Chemnitz 2007: Im Visier der Antifa

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