© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/13 / 02. August 2013

Pankraz,
H. Bergson und das Leben als Schöpfer

Gern fragt man sich unter Bücherfreunden: „Welches Buch würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen, wenn du nur ein einziges mitnehmen dürftest?“ Pankraz befindet sich glücklicherweise nicht in besagter Verlegenheit, er fährt zwar jetzt zum Urlaub auf eine Insel, doch die ist keineswegs einsam. Mitnehmen wird er aber trotzdem ein bestimmtes Buch, nämlich die deutsche Neuübersetzung von Henri Bergsons „L’évolution créatrice“, für das der Autor 1927 den Nobelpreis für Literatur erhielt („Schöpferische Entwicklung“, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013, gebunden, 428 Seiten, 68 Euro).

Gertrud Kantorowicz, die Frau des legendären George-Schülers Ernst Kantorowicz, hatte es 1910 zum erstenmal übersetzt, damals für den Eugen Diederichs Verlag in Jena. Es las sich blendend, trotz seiner komplizierten und riskanten anti-darwinistischen Thesen, es war sowohl ein wissenschaftliches als auch ein literarisches Großereignis. Die Neuübersetzung von Margarethe Drewsen nun hat den Kantorowicz-Text, der laut Verlagsmitteilung „in Sprache und Terminologie stark vom George-Kreis geprägt war, vollständig überarbeitet“, was an sich zu erheblicher Sorge Anlaß gibt. Man wird genau hinsehen und vergleichen müssen.

Henri Bergson (1859–1941), der das Deutsche ebenso gut sprach wie das Französische, hat die deutschen Übersetzungen seiner Bücher (und so auch die von Frau Kantorowicz) vor Veröffentlichung stets selbst durchgesehen, korrigiert und autorisiert. Und diese Bücher wie auch ihre Übersetzungen galten im gebildeten Europa von damals, spätestens seit dem Erscheinen von „Le rire“ (Das Lachen) im Jahre 1900, als absolute literarische Sensationen. Sie wurden in gründlichster Weise hin und her gewendet und leidenschaftlich diskutiert.

Bergson schrieb elegant und hatte einen Hang zur ausgefeilten Polemik. „Wie soll es möglich sein“, höhnte er in „L’évolution créatrice“, „daß zum Beispiel ein so kompliziertes Organ wie das Auge durch eine Reihe zufälliger Mutationen, die sich erhalten und fortpflanzen, entsteht? Und wie soll man es erklären, daß in der Entwicklung des Lebens in ganz verschiedenen, voneinander unabhängigen Zweigen ganz gleichartige Schöpfungen hervorgebracht werden, und zwar mit ganz verschiedenen Mitteln?“

Nein, sagt er, die Entstehung zweckvoller organischer Gebilde lasse sich nicht auf einen blinden Prozeß von angeblich völlig zufälligen Mutationen und Selektionen zurückführen, sondern sie sei die Folge einer im Leben waltenden vitalen Entelechie, eines élan vital, wie die berühmte Bestimmung also lautete. „Der élan vital berührt sich mit den physikalischen und chemischen Kräften nur insofern, als man die kleinsten Teile eines Kreises als Teile einer geraden Linie betrachten kann. Das Leben ist die Kurve, die Wissenschaft ist die Gerade, die sich eben gerade mal an einem einzigen winzigen Punkt mit dem Leben berührt.“

Und Bergson wendet sich in „L’évolution créatrice“ auch noch gegen den erkenntnistheoretischen Monismus der Hirnforscher, die behaupten, die Gedanken seien nichts als Aussonderungen materieller, physischer Vermischungen und Entgegensetzungen. Dies wäre dasselbe, sagt Bergson in einem seiner hinreißenden Vergleiche, als wolle man aus der Tatsache, daß eine am Kleiderbügel aufgehängte Hose herunterfällt, wenn man den Bügel wegnimmt, schließen, daß Hose und Bügel identisch seien.

Die Mechanisten führten dagegen zweierlei an: Erstens fragten sie hämisch, wo er denn sei, der élan vital, sie hätten nun schon seit Jahrhunderten in lebenden Organismen herumgeschnitten und seien noch nie auf ihn gestoßen, wo er denn sei? Und zweitens verwiesen sie auf die Erfolge der organischen Chemie, die – angefangen beim Harnstoff schon 1828 von Friedrich Wöhler – immer wieder sogenannte „organische Substanzen“ künstlich herstellt (ohne damit freilich je Leben hergestellt zu haben).

Henri Bergson seinerseits berief sich auf Experimente, die noch im 19. Jahrhundert Hans Driesch in der deutschen meereszoologischen Station von Neapel angestellt hatte. Er experimentierte mit Seeigeleiern und stellte fest, daß deren erste Furchungszellen mehr Potenzen haben, als in der normalen Entwicklung realisiert werden. Aus den beiden ersten Furchungszellen entstehen die beiden Hälften des Seeigels. Trennt man sie aber voneinander, so kann aus jeder von ihnen ebenfalls ein ganzer Seeigel werden. Driesch schloß daraus – und mit ihm Bergson – auf die Existenz einer umfassenden Lebenskraft, eben des élan vital.

Leider kann Pankraz hier nicht auf die vielen wichtigen Konsequenzen der Bergsonschen Lehren über schöpferische Entwickung und Intuition eingehen; er hat es in seinem umfänglichen Buch „Mutter Erde, Vater Gott“ (Schnellroda 2011) versucht. Aber um es zu wiederholen: Zur Zeit ihres Erscheinens waren sie nicht nur wissenschaftliche, sondern im gleichen Takt auch literarische Weltereignisse. Zu ihren begeisterten Erstlesern gehörten nicht zuletzt viele bekannte Künstler und Belletristen.

Endlich einmal, so erschien es denen, wurde hier in aller Ausführlichkeit und Eindringlichkeit dargestellt, daß der kreative Einfall letztlich über dem peu à peu nach logischer Matrize voranschreitenden Schlußfolgern rangiert. Das Erkennen war nun keine bloße Angelegenheit von Lehrbüchern und Steißpaukern mehr, sondern primäres Anliegen wahrer Künstler, empfindlicher, ja, überempfindlicher Geniedenker. Darauf hatte man schon lange gewartet, daß einem das einmal gesagt würde. Bergson sagte es.

Ihn zu lesen könnte gerade den modernen Kreativbolzen, die heute in so vielen Bereichen unterwegs sind, Genugtuung und Ansporn verschaffen. Es setzt freilich waches Interesse, gutes Vorwissen und einiges Sitzfleisch (oder Liegefleisch) voraus. Urlaubslektüre im herkömmlichen Sinne ist Henri Bergson vielleicht nicht unbedingt. Aber mit Sicherheit kehrt man, wenn man sich ihm aussetzt, echt erfrischt nach Hause zurück.

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