© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/13 / 02. August 2013

Les Misérables vom Polarkreis
Vor sechzig Jahren wurde der Aufstand der Häftlinge im Gulag von Workuta blutig niedergeschlagen
Christian Dorn

Nach Stalins Tod im März 1953 schien im folgenden Frühsommer in Workuta allmählich der Himmel aufzubrechen. Die Zwangsarbeiter des von Miliz umstellten Lagers 10 von Schacht 29 hatten sich am 1. August 1953 untergehakt und marschierten auf das Lagertor zu, immer lauter „Freiheit, Freiheit!“ rufend. Es war ein existentieller, verzweifelter Akt zur Wahrung der eigenen Würde, hatten die Häftlinge in der zumeist eisigen Hölle von Workuta – 200 Kilometer nördlich des Polarkreises – doch nichts mehr zu verlieren.

Schließlich trat ein Oberst der Menge mit gezückter Pistole entgegen. Ein junger Ukrainer in der ersten Reihe entblößte daraufhin seine Brust und höhnte: „Nun dawai, schieß doch Tschekist!“ Es waren seine letzten Worte. Der Schuß war gleichsam Startsignal für den darauf einsetzenden Kugelhagel. Das Massaker forderte über 300 Verletzte und 65 Tote, darunter die beiden jungen, 1932 und 1929 geborenen Deutschen Wolfgang Jeschke und Hans-Gerd Kirsche.

Die genaue Schilderung der Vorgänge verdankt sich dem Journalisten und Theodor-Wolff-Preisträger Horst Schüler, der damals im Lager 10 inhaftiert war. Er überlebte das Massaker, weil er sich sofort auf den Boden geworfen hatte. Über ihm liegende Mithäftlinge waren „Schutzschilder“. Sein Buch „Workuta. Erinnerung ohne Angst“ (Herbig 1993) legt hiervon eindrucksvolles Zeugnis ab.

Die Niederschlagung des Aufstandes – der in Wirklichkeit eine bloße Arbeitsniederlegung war – markierte den Endpunkt der mit Stalins Tod im Lagersystem einsetzenden Unruhe. Mit selbstgebastelten Transistorradios hatten die Häftlinge von den Moskauer Machtkämpfen erfahren und von der Liquidierung des NKWD-Chefs Lawrentij Berija, der als „Spion und Verräter“ erschossen worden war. Als sich die Nachricht von den Streiks und Demonstrationen am 17. Juni 1953 in der DDR verbreiteten, kursierten auch in den Lagern von Workuta Flugblätter, die zum Widerstand riefen. Am 30. Juni 1953 war es zum ersten Streik in einem der Kohleschächte gekommen, nachdem Eisenbahner die Streikparole über eine Losung an den Wagen verbreitet hatten. Andere Lagerabschnitte schlossen sich dem Streik an. Am 29. Juli 1953 streikten sechs der 17 Abteilungen des Workuta-Komplexes – insgesamt 15.604 Gefangene. Die Lagerleitungen waren geflüchtet; Streikkomitees hatten die Kontrolle übernommen. Auf die wichtigsten Forderungen aber – Freilassung aller politischen Gefangenen, Rückkehr der Ausländer in ihre Heimat – ging die Lagerleitung, die sogar den Generalstaatsanwalt Roman Rudenko, russischer Hauptankläger der Nürnberger Prozesse, herangeholt hatte, nicht ein.

In Workuta mit seinen 32 Schachtanlagen waren hunderte Deutsche interniert. Es war eines der größten und schrecklichsten im metastasenartigen Krebsgeschwür namens GULag (Glawnoje Uprawlenije Lagerej; dt.: Hauptverwaltung der Lager), das sich von Europa bis Asien erstreckte. Das weitverzweigte Netz von Konzentrationslagern, die zunächst nach dem Prinzip Vernichtung durch Arbeit funktionierten, war bereits Anfang der zwanziger Jahre eingeführt worden. Offiziell galten die Orte als „Arbeitslager“ und betrat man sie, so beschreibt es der britische Historikers Norman Davies, oftmals unter einem triumphal geschwungenen Bogen, der den zynischen Schriftzug „tscheres trud domoi“ (Die Arbeit ist der Weg nach Hause) trug.

Bis heute ist die Zahl der Menschen, die im sowjetischen Lagersystem umgekommen und ermordet worden sind, ungeklärt – sie reicht von einer Millionen bis hin zu zwanzig Millionen Todesopfern. Aus Sicht Davies’ forderten „diese Lager mehr Opfer als Ypern, die Somme, Verdun, Auschwitz, Majdanek, Dachau und Buchenwald zusammen.“

Dennoch sind sie bis heute kaum Bestandteil des öffentlichen Bewußtseins Westeuropas. Ausdruck dessen ist auch der vom EU-Parlament beschlossene Gedenktag „zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ am 23. August, der auf den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 rekurriert. Dieser wird – mit Ausnahme Schwedens – bislang nur von osteuropäischen Staaten begangen. Ein gemeinsames Gedenken würde auch die Erinnerung an den Aufstand von Workuta befördern, der zu den großen historischen Arbeiter- und Volksaufständen gegen den Kommunismus gehört. Moskau reagierte, indem es mühsam die Entstalinisierung einleitete und schrittweise die politischen Gefangenen amnestierte, die aus über 30 Ländern deportiert worden waren.

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