© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/13 / 09. August 2013

„Der Nationalstaat hat Zukunft“
Sein Buch „The Significance of Borders“ ist ein Loblied auf die Grenzen des nationalen Staates, der allein Freiheit und Demokratie garantieren kann, so der junge Historiker Thierry Baudet, der in seiner Heimat Holland als intellektuelles Wunderkind gilt.
Moritz Schwarz

Herr Dr. Baudet, den Medien Ihrer Heimat gelten Sie als „konservatives Wunderkind“.

Baudet: So hat mich die linksliberale Wochenzeitung Vrij Nederland genannt. Man hält mir zugute, daß ich konservative Argumente so präsentiere, daß sie für die überwiegend liberalen Medien der Niederlande einleuchtend erscheinen.

In Holland lassen sich Linksliberale mit konservativen Argumenten überzeugen?

Baudet: Ich glaube nicht, daß ich sie alle überzeuge, aber sie respektieren die Argumente immerhin.

Das ist weit mehr, als man von den deutschen Medien gewohnt ist.

Baudet: Die Niederlande sehen sich selbst gerne als Beispielnation für andere. Und vielleicht sind sie das auch ein bißchen. Aber machen Sie sich keine falsche Vorstellung. Manche Rezensenten loben auch nur meine Argumentation und Stil, machen aber klar, daß sie meine Position eher zurückweisen.

Immerhin, Ihr Buch „The Significance of Borders“ wurde von den meisten holländischen Medien ausführlich rezipiert, und Sie hatten sogar eine Kolumne in einer führenden niederländischen Tageszeitung.

Baudet: Und doch herrscht in den Niederlanden, wie wohl in ganz Europa, die Vorstellung, daß Intellektuelle „natürlich“ links sind. So ist man überrascht, kommt eine intellektuell fundierte Argumentation von rechter Seite. Was aber erstaunlich ist, schließlich sind alle großen Debatten der letzten Jahre hierzulande von rechts angestoßen worden.

In Deutschland fallen dezidiert konservative Positionen fast regelmäßig der Politischen Korrektheit zum Opfer.

Baudet: Natürlich erlebe auch ich heftige Attacken bis hin zu persönlichen Angriffen. Bedenken Sie, daß etwa die europäische Einigung in Gestalt der EU oder der Einwanderung für manchen Politiker oder Journalisten Fragen von tiefer persönlicher Überzeugung sind. So daß er bei Kritik daran nicht mehr unterscheidet zwischen kritischem Debattenbeitrag – den meine Ausführungen darstellen – und persönlichem Angriff auf seine politische Existenz. Dieser Mangel an Differenzierung ist besorgniserregend und natürlich wirkt auf solche Leute ein Buch wie „The Significance of Borders“ wie eine existentielle Bedrohung.

Was ist denn nun die „Bedeutsamkeit von Grenzen“, wie der englische Originaltitel Ihres Buches auf deutsch übersetzt lautet?

Baudet: In Europa werden seit Jahren Grenzen aufgelöst. Denken Sie nicht nur an klassische Ländergrenzen – es geschieht auf allen Ebenen: etwa durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, die Welthandelsorganisation WTO, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – durch all diese supranationalen Organisationen.

Warum aber wird das zum Problem?

Baudet: Weil das, was wir den demokratischen Rechtsstaat nennen, nur in definierten Grenzen existieren kann. Löst man diese auf, löst sich auch der demokratische Rechtsstaat auf.

Warum?

Baudet: Grenzen haben zwei Implikationen: Sie erzeugen Souveränität, also die konstitutionelle Unabhängigkeit eines Staatswesens, sowie die Ermächtigung eines Parlamentes, über diesen Rechtsraum zu bestimmen. Und sie erzeugen die Voraussetzung, um eine gemeinsame Gesellschaft zu formen.

Ohne Grenzen keine Gesellschaft?

Baudet: Genau. Erodieren die Grenzen, erodiert auch die Gesellschaft, denn durch die beliebige Migration nehmen ethnische und kulturelle Konflikte zu, soziale Konflikte verschärfen sich und Subgesellschaften entstehen. Schließlich bleibt der Staatsmacht nichts, als sich zurückzuziehen. Der ehedem für alle Bürger verbindliche demokratische Rechtsstaat wird ausgehöhlt. Werden Grenzen zu sehr aufgeweicht, entweicht also die Souveränität ebenso wie der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft, also jene Errungenschaften, die eine demokratische Bürgergesellschaft ausmachen. Der Bürger wird entmündigt und seine Gesellschaft fragmentiert.

Warum sollte eine multiethnische Bevölkerung nicht in der Lage sein, eine gemeinsame Gesellschaft zu bilden?

Baudet: Sie haben mich mißverstanden, das Problem ist nicht Multiethnizität, sondern Multikulturalismus. Also nicht das Vorhandensein fremder kultureller Einflüsse oder Menschen mit fremder Abstammung in einer Gesellschaft, sondern die Vorstellung, daß eine Gesellschaft völlig unterschiedliche Kulturen vereinen könne. Warum? Weil man, um gemeinsame Gesetze zu haben, eine gemeinsame Kultur braucht. Man braucht einen gemeinsamen Nenner, gemeinsame Grundwerte, man braucht eine Leitkultur, wie der Soziologe Bassam Tibi das genannt hat. Sie sehen das an der Tendenz vieler Muslime in Europa, eigene Scharia-Gerichte zu verlangen, weil sie sich gegenüber dem jeweiligen nationalen Gerichtswesen nicht verpflichtet fühlen. So scheitert das Ideal des Rechtstaats, vor dem alle gleich sind, an der Fragmentierung der Gesellschaft. Auf der anderen Seite können wir glücklicherweise beobachten, daß viele Muslime in Europa ihre Kultur aufgeben, sie trinken Alkohol, leben freizügig und wollen aufrichtig teilnehmen im sozialen Kontext ihres neuen Landes. Dieser soziale Zusammenhalt einer Gesellschaft ist die nationale Identität. Sie bedeutet: Ich teile etwas mit meinen Landsleuten. Und nur dann, wenn ein Bürger diese nationale Identität empfindet, wird er die Beschlüsse seiner Repräsentanten im Parlament auch als verbindlich betrachten.

Könnte man Ihnen nicht vorwerfen, daß Sie möglicherweise einen veralteten Begriff von Gesellschaft haben?

Baudet: Glauben Sie? Dann werfen Sie einfach mal einen Blick in Facebook: Etwa 85 bis 90 Prozent der Leute, mit denen der durchschnittliche westliche Facebook-Nutzer befreundet ist, sind Leute der eigenen Sprachgruppe. Die meisten Holländer sind auf Facebook mit Holländern befreundet, die meisten Deutschen mit Deutschen etc. Sogar in der digitalen Welt existieren also die sprachlichen oder kulturellen Grenzen.

In der EU gilt der Nationalstaat als politisches Auslaufmodell. Sie sagen: Irrtum, ihm gehört die Zukunft!

Baudet: Heute wird der Nationalstaat gerne als etwas hingestellt, dessen natürliches Ende erreicht sei. Man tut so, als sei seine Zeit abgelaufen, als sei er historisch überholt. Dafür gibt es aber keinerlei Hinweis, im Gegenteil. Was tatsächlich passiert, ist, daß Teile der kulturellen und politischen Eliten in Europa versuchen, ihn kaputtzumachen. Ich kann nicht vorhersagen, ob der Nationalstaat überleben wird. Denn wenn der Souveränitätstransfer, die Masseneinwanderung aus anderen Kulturkreisen und die Politik des Abbaus der Grenzen weitergeht, dann wird er in der Tat in absehbarer Zeit verschwunden sein. Aber nicht wegen historischer Altersschwäche, sondern durch politische Zerstörungswut.

Warum hat der Nationalstaat Zukunft?

Baudet: Weil nur er die Zukunft des demokratischen Rechtsstaats garantieren kann, von dem ich nicht glaube, daß die Europäer wirklich bereit sind, ihn wieder aufzugeben.

Warum sollte es nicht möglich sein, die Demokratie auf die EU-Ebene umzubetten, wie das geplant ist?

Baudet: Zunächst muß ich Ihnen widersprechen. Ich sehe nicht, daß es einen Plan gibt, die Nationalstaaten für einen EU-Staat aufzugeben. Es gibt diese Tendenz, ja – aber keinen Plan.

Kanzlerin Merkel sagte auf dem jüngsten EU-Gipfel, die EU-Kommission solle „eines Tages eine europäische Regierung sein“.

Baudet: Gut, das ist ein verblüffend offenes Wort. Aber ich könnte Ihnen etliche Zitate nennen, in denen Ihre Kanzlerin zum Ausdruck gebracht hat, daß aus der EU kein Bundesstaat werden soll.

Es gibt jede Menge solcher Zitate. Bundesministerin Ursula von der Leyen etwa äußerte im „Spiegel“: „Mein Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa.“

Baudet: Ich gebe zu, ich bin etwas überrascht über die Offenherzigkeit der deutschen Politiker – und auch über die geringe Aufregung, die so etwas offensichtlich unter den Deutschen hervorruft. Kein niederländischer Politiker würde es wagen, so etwas offen zu äußern, denn am nächsten Tag wäre er nicht mehr im Amt. Deshalb glaube ich nicht, auch angesichts der von Ihnen genannten Zitate nicht, daß es einen Plan für einen EU-Nationalstaat gibt. Dennoch ja, die Reise geht dorthin. Jetzt stellen Sie zu Recht die Frage: Wie paßt das zusammen? Die Wahrheit ist, die Politiker wissen selbst nicht recht, wohin es geht. Denn die Probleme sind so komplex, daß ihnen nicht klar ist, worin ihre Politik eigentlich mündet. Was sie tun, ist zu versuchen die aktuellen Fragen in den Griff zu bekommen, ohne die endgültigen Folgen ihres Handelns zu reflektieren. Die meisten Politiker sind nicht intellektuell genug, die Probleme völlig zu verstehen. Sie sind keine Analytiker, sondern Pragmatiker: Sie analysieren Schwierigkeiten nicht, sie lösen sie. Sie leben von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Wahl zu Wahl. Politiker zu sein ist ein grauenvoller Beruf: Sie sind ständig getrieben. Das einzige, was sie dafür bekommen, ist Macht. Das ist der Grund, warum Menschen Politiker werden. Und wenn der Ausbau der EU ihnen Macht verspricht, dann werden sie ihn betreiben. Aber nicht weil sie einen Masterplan haben, sondern weil ihnen das neue Spielräume ermöglicht. Doch sollte je die öffentliche Meinung deutlich umschwenken, dann werden wir gar nicht so schnell schauen können, wie aus eben noch „überzeugten Europäern“ plötzlich „nachdenkliche“ EU-Skeptiker werden. Nun, zumindest in den Niederlanden wäre das so.

Noch einmal die Frage: Warum sollte es nicht möglich sein, die Demokratie auf die EU-Ebene zu verlegen?

Baudet: Weil es keine EU-Nation gibt, kein Staatsvolk. Die Bürger würden sich viel weniger mit der Politik identifizieren, als das heute in den Nationalstaaten der Fall ist. Ein EU-Staat wäre folglich eher eine Herrschaft der Bürokraten, als eine lebendige Bürgergesellschaft.

Aber der Nationalstaat hat Europa doch in die Katastrophe geführt.

Baudet: Pardon, woher haben Sie diesen Unsinn? Nein, Hitler etwa wollte keinen deutschen Nationalstaat, sondern ein deutsches Imperium. Mussolini wollte keinen italienischen Nationalstaat, sondern ein neues Römisches Reich. Nationalsozialismus und Faschismus waren keineswegs Formen des Nationalismus, sondern des Imperialismus. Es sind Reiche, die Krieg verheißen. Nationalstaaten sind dagegen friedliche Konzepte, denn es besteht für sie kein Grund, ihre Staatsmacht über die nationalen Grenzen hinaus auszuweiten. Das ist der Grund, warum wir seit 1945 in Europa Frieden haben: weil wir von der Idee des Imperialismus zur Idee des Nationalstaats zurückgekehrt sind. Allerdings sind wir dabei, ein neues Reich zu schaffen: die EU.

Sie sagen, die meisten Errungenschaften verdanken wir gar der „nationalstaatlichen Dezentralisation Europas“.

Baudet: Kein Zweifel, hätte Martin Luther nicht von einem deutschen Fürstentum in ein anderes flüchten können, hätte es keine Reformation gegeben. Wäre es Montesquieu und Voltaire nicht möglich gewesen, ihre Bücher in den Niederlanden zu veröffentlichen, was ihnen in Frankreich verboten war, hätte es womöglich keine Aufklärung gegeben.

Sie loben sogar die Rivalität zwischen den europäischen Staaten.

Baudet: Weil es ohne sie Stillstand und keine Entwicklung gegeben hätte. Zum Beispiel ist die Industrielle Revolution eine ihrer Folgen. Großreiche dagegen bedeuten Stillstand. Nicht China hat den Seeweg nach Westen entdeckt, sondern das kleine Portugal den Seeweg nach China. Das imperiale Spanien wurde vom britischen Nationalstaat glatt überrundet. Der Wettlauf der Nationalstaaten war so produktiv, daß winzige Länder wie Portugal, Holland, England weltweit Bedeutung erlangten und der Welt Fortschritt brachten. Die Wahrheit ist: Der Nationalstaat ist bis heute eine grandiose Erfolgsgeschichte.

 

Dr. Thierry Baudet, gilt mit seinen Thesen über den souveränen Nationalstaat als „konservativer Shootingstar“ (Die Weltwoche) und „konservatives Wunderkind“ (Vrij Nederland). Der 1983 in Haarlem geborene Jurist und Historiker ist gefragter Gast in holländischen Medien, war Kolumnist des NRC Handelsblad. Baudet lehrte in Leiden und Amsterdam, derzeit an der Universität Tilburg und ist Gastdozent am Königlich-Niederländischen Institut in Rom. Er veröffentlichte etliche kritische Bücher, unter anderem zur Frage der nationalen Identität, des Konservatismus und des Multikulturalismus . Vor allem seine Studie „The Significance of Borders“ – die holländische Ausgabe heißt übersetzt „Angriff auf den Nationalstaat“ – fand Beachtung. Baudet bemängelt darin die „krankhafte Abkehr von der Heimat, Bräuchen und der Nation“. Sein Buch möchte er auch als Anleitung zur „Genesung“ verstanden wissen.

www.thierrybaudet.com

Foto: Deutsche Grenze: „Erodieren die Grenzen, erodiert auch die Gesellschaft, denn durch beliebige Migration nehmen ethnische und kulturelle Konflikte zu, soziale Konflikte verschärfen sich und Subgesellschaften entstehen. Schließlich bleibt der Staatsmacht nichts, als sich zurückzuziehen. Der ehedem für alle verbindliche demokratische Rechtsstaat wird ausgehöhlt.“

 

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