© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/13 / 09. August 2013

Lieber keine direkte Bürgerbeteiligung
Studie über das Führungspersonal in Deutschland: Vertrauensvoll gegenüber der EU, liberal und aufgeschlossen für Einwanderung
Christian Schreiber

Wie denkt Deutschlands Elite? Dieser Frage ging das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) nach, welches zwischen Oktober 2011 und Oktober 2012 insgesamt 354 Inhaber von Spitzenpositionen aus zentralen Bereichen der Gesellschaft befragt hat. Von besonderem Interesse waren Führungskräfte aus Politik, Verwaltung, Justiz und Militär, Wirtschaft und Gesellschaft sowie Kultur und Wissenschaft.

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Studie zu einem zentralen Ergebnis kommt: Die deutschen „Entscheidungsträger“ schauen optimistisch in die Zukunft, haben Vertrauen in die Demokratie sowie auch in die Institutionen der Europäischen Union.

Die Untersuchung ist die erste deutschlandweite Erhebung zum deutschen Führungspersonal nach der sogenannten Potsdamer Studie von 1995 und soll nach Aussage der Verfasser ein neues Bild von der „Lage der Nation“ aus Sicht jener zeichnen, die mit ihren Entscheidungen Verantwortung tragen.

Als größte Herausforderung für Deutschland sehen die Führungskräfte den demographischen Wandel, und sie glauben, daß Staat und Gesellschaft zuwenig tun, um diesem Problem Herr zu werden: „Die Führungskräfte wissen, daß der demographische Wandel kommt, und sie erkennen, daß wir zuwenig tun, um uns darauf einzustellen. Sie empfinden eine gewisse Hilflosigkeit“, sagte Jutta Allmendinger, Präsidentin des WZB. Deswegen sei das Problemempfinden so groß bei dem Thema: „Sie sehen die Herausforderung, scheitern aber an der Umsetzung von Lösungen.“

Die Führungszirkel der Republik sind dabei eine Männerdomäne. 87,9 Prozent der interviewten Personen waren Männer und 12,1 Prozent Frauen. Rund 94 Prozent von ihnen wurden in den alten Bundesländern geboren. Nur sechs Prozent der Entscheidungsträger stammen demnach aus dem Gebiet der ehemaligen DDR. Nach Angaben der Studie bezeichnen sich die befragten Personen größtenteils als familienfreundlich eingestellt. 40 Prozent der aktuell oder in der Vergangenheit verheirateten Führungspersonen gaben an, daß ihre Ehe auf dem Karriereweg geschätzt wurde. Ein ähnlicher Anteil der Eltern gab einen positiven Einfluß von Kindern an, während 18 beziehungsweise 15 Prozent meinten, daß sie sich für ihren ledigen oder kinderlosen Status rechtfertigen mußten.

Ebenso positiv wie die Aussichten der Bundesrepublik schätzen die Befragten auch ihre eigene soziale Lage ein. Soziale Abstiegsängste sind Deutschlands Elite jedenfalls fremd.

Bedenken herrschen aber offenkundig bei der Frage, ob die politische Klasse Deutschland fit für die Zukunft bekommt. So sind die Entscheider dafür, Deutschland für Einwanderer zu öffnen: 71 Prozent der Befragten waren der Meinung, daß man jedem die Einreise ermöglichen sollte, solange ausreichend Arbeitsplätze vorhanden sind. 90 Prozent der Befragten glauben sogar, daß Einwanderung das Zusammenleben bereichert und gut für die deutsche Wirtschaft ist.

Bei den Problemen, denen sich Deutschland auf lange Sicht stellen muß, wurden neben dem demographischen Wandel an zweiter Stelle die Wirtschafts- und Staatskrisen genannt, die immerhin für die Hälfte der Befragten ein großes Thema sind. Danach bedrücken die Elite besonders die Klärung der sozialen Frage sowie Belange des Umweltschutzes.

Die Zukunft Europas und die internationale Rolle Deutschlands wurden dagegen nur von 19 Prozent als Problem identifiziert. Bildung und Wissenschaft wurden ebenso als eher unwichtig eingestuft wie globale Konflikte und die Integration von Ausländern.

Bei der Frage, wie Deutschlands Elite politisch steht, kommt die Studie zu keiner klaren Erkenntnis. 43 Prozent der Befragten waren zum Zeitpunkt der Erfassung Mitglied einer politischen Partei. Von diesen waren fast die Hälfte Mitglied einer der Unionsparteien. Rund 30 Prozent gehörten der SPD an, knapp 13 Prozent der FDP. Bündnis 90/Die Grünen sowie die Linkspartei blieben mit fünf beziehungsweise einem Prozent unter „ferner liefen“.

Dennoch taten sich die Führungskräfte mit einer eigenen Einordnung im Links-Rechts-Schema schwer, die überwältigende Zahl verortete sich lieber in der Mitte. Dementsprechend wenig überraschend bezeichnet sich die deutsche Elite überwiegend als ökonomisch liberal denkend: Beinahe zwei Drittel (63 Prozent) gaben an, daß mehr staatliche Unternehmen privatisiert werden sollten, und ganze 89 Prozent sagten, daß Wettbewerb eine gute Sache ist. Zudem waren fast alle Befragten der Meinung, daß es für Deutschland wichtig sei, offen für den Welthandel zu bleiben.

Überrascht hat viele der Befragten die Vehemenz der Finanzkrise 2008. Abweichend zu ihrer sonst eher liberalen Grundhaltung gab eine Mehrheit an, daß sich die Politik zu weit zurückgezogen und die Konsequenzen zunächst unterschätzt habe. Als Gründe für die Krise im Banken- und Finanzsektor sahen fast zwei Drittel mangelnde politische Kontrolle sowie übermäßige öffentliche und private Verschuldung.

Überraschenderweise sahen laut Studie nur 35 Prozent der Entscheider Spekulationsblasen und die damit verbundenen Zusammenbrüche von Banken als Auslöser für die Turbulenzen auf den Finanzmärkten. Die Bosse in den Führungszentralen von Banken und Unternehmen wurden auffällig in Schutz genommen. Nur ein Viertel der befragten Elite nannte Gier als Krisenauslöser. „Bereits bei der Ursachenanalyse zeigt sich eine klare Verantwortungszuweisung an die Politik, während die individuellen oder wirtschaftsinternen Verfehlungen weniger eine Rolle spielten“, heißt es in der Studie.

Eine kritische Hinterfragung der Politik der Europäischen Union ist Deutschlands Eliten allerdings fremd. Das Vertrauen in die europäischen Institutionen wie Kommission und Parlament ist nach wie vor intakt. Beide seien handlungsfähig.

Gute Noten bekommt auch die Bundesregierung rund um Kanzlerin Angela Merkel. Sie genießt ein positives Ansehen: 84 Prozent der Befragten äußerten Vertrauen in die Lösungskompetenz der Regierungschefin. Immerhin 57 Prozent glauben, daß die Politiker innerhalb der EU geeignet seien, die Probleme Europas in den Griff zu bekommen.

Erstaunliche Erkenntnisse liefert die Studie in den Bereichen, wo nach der Selbstwahrnehmung der deutschen Elite gefragt wurde. Grundsätzlich sehen sich die Führungskräfte in der Pflicht, die Lösung von gesellschaftlichen Problemen anzugehen.

Die gesellschaftliche Verantwortung sei bei der Elite sehr ausgeprägt, sagte WZB-Präsidentin Allmendinger gegenüber dem Wall Street Journal. Allerdings scheint das Vertrauen gegenüber den anderen Angehörigen der „Elite“ relativ gering ausgeprägt zu sein. Denn während positiv besetzte Motive wie Gestaltungswille und Verantwortung häufig für sich selbst als Motivationsfaktoren genannt wurden, gaben die Befragten an, daß sie die anderen Entscheidungsträger als weniger gemeinwohlorientiert einschätzen. Nur 22 Prozent sagten, daß der Wunsch, „Verantwortung zu übernehmen“, das wichtigste oder zweitwichtigste Motiv für andere Führungskräfte sei.

Obwohl die Befragten überwiegend der Meinung sind, daß die gesellschaftlichen Strukturen in Deutschland stabil sind, trauen sie der Normalbevölkerung nur wenig politische Kompetenz zu. 90 Prozent der Führungskräfte würden bei wirklich wichtigen Gesetzen den Bürgern lieber keine direkte Mitentscheidung ermöglichen. Dafür zeigte man sich bei der Frage der Entwicklungshilfe äußert generös. Gut die Hälfte der Befragten gab an, daß sie bereit wären, höhere Steuern zu zahlen, um Deutschlands Hilfe an Entwicklungsländer zu vergrößern.

WZB-Chefin Allmendinger zieht als eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der Befragung, daß Deutschlands Führungskräfte zuwenig kooperieren. Gegenüber der Welt nannte sie als Beispiel die Frage der Vernetzung. Die Elite in Politik und Verwaltung sei in extrem hohem Maß auf Kontakte im eigenen Umfeld konzentriert.

Die Wirtschaft sei dagegen stärker außenorientiert und pflege vor allem Kontakte innerhalb der Bundesrepublik. Ein richtiger und wünschenswerter Austausch fände nicht statt. „Es gibt“, so Allmendinger, eine „gewisse Spaltung der Elite.“

www.wzb.eu

Foto: Täglicher Auftritt der Führungskräfte an Flughäfen und Bahnhöfen: Keine Angst vor sozialem Abstieg, doch besorgt um den Umweltschutz

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