© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/13 / 09. August 2013

Mit seinem Latein am Ende
Überwachungsskandal: Das deutsche Staatsoberhaupt führt seine Minderwertigkeitskomplexe vor
Doris Neujahr

Mit seinen konträren Äußerungen über den amerikanischen Dissidenten Edward Snowden hat Bundespräsident Joachim Gauck seine Begrenztheit markiert. Anfang Juli rückte er Snowdens Handeln in die Nähe des „puren Verrats“, drei Wochen später bezeugte er ihm „Respekt“. Souverän wirkt das nicht.

Es sei zugestanden, daß der Bundespräsident seine Worte sorgfältig abwägen muß. Das gilt doppelt und dreifach, wenn es sich um eine Angelegenheit handelt, die den wichtigsten Verbündeten – zugleich das mächtigste Land der Erde – in den Zustand der Weißglut versetzt. Zugestanden sei auch, daß Gauck den jungen Amerikaner im Sommerinterview des ZDF nicht schlankweg als Verräter bezeichnet, sondern erst einen konditionalen Vorbehalt gesetzt und danach gesagt hat: „Für puren Verrat oder die Überschreitung von Verpflichtungen, die man selber eingegangen ist, die man mit seiner Unterschrift besiegelt hat, dafür habe ich kein Verständnis. Denn der öffentliche Dienst muß auf Vertrauenswürdigkeit setzen.“

Dennoch, die häßliche Insinuation bleibt. Genauso hätte sich auch ein Stasi-Führungsoffizier über einen IM äußern können, der Skrupel bekommen und die Verpflichtung durch ein Outing aufgekündigt hat. Zum Zeitpunkt des Interviews war klar, daß Snowden aus seinem Handeln keinen materiellen Nutzen ziehen wollte, sondern sich aus Gewissensgründen und wissentlich in höchste Gefahr begeben hat. Bekannt war zu diesem Zeitpunkt auch, daß Deutschland das Hauptobjekt der US-Späher ist. Kein deutscher Geheimdienst, kein investigativer Journalist hat den Stein ins Rollen gebracht. Aus seiner DDR-Erfahrung muß Gauck außerdem wissen, daß die Eigensinnigen und Außenseiter das Salz der Erde bilden, niemals die Mitläufer.

Drei Wochen später hat der Bundespräsident, unter dem Eindruck empörter Reaktionen, seine Aussage revidiert. Nun kritisierte er, daß die Abhöraktionen der US-Geheimdienste der Freiheit schadeten. „Diese Affäre beunruhigt mich sehr. Die Angst, unsere Telefonate oder Mails würden von ausländischen Nachrichtendiensten erfaßt oder gespeichert, schränkt das Freiheitsgefühl ein – und damit besteht die Gefahr, daß die Freiheit an sich beschädigt wird.“

Das war zuwenig. Denn es geht nicht um verletzte Gefühle, sondern um die eingeschränkte Souveränität des deutschen Staates, der offensichtlich unfähig ist, die Grundrechte seiner Bürger gegen die Begehrlichkeiten anderer zu schützen. Dazu hat Joachim Gauck nichts gesagt. Der frühere „Wanderprediger der Freiheit“ ist mit seinem Latein am Ende.

Der Prism-Konflikt lag außerhalb seines Erwartungshorizonts. Gaucks Vorstellungen von der westlichen Gesellschaft und von den internationalen Beziehungen sind naiv und holzschnitt-artig. Bezeichnend waren die Tränen, die ihm in die Augen traten, als er US-Präsident Obama am 19. Juni vor dem Schloß Bellevue empfing und die amerikanische Nationalhymne erklang. Gauck kommentierte den Auftritt so: „Da steht nicht nur der Präsident, sondern auch der Mecklenburger, dem es nicht in die Wiege gelegt ist, neben dem mächtigsten Mann der Welt zu stehen und eine wunderbare Hymne über freie Menschen zu hören.“ Bei aller Sympathie, der mündige Staatsbürger schämt sich fremd, wenn sein Oberhaupt sich einem Gast gegenüber, und sei er noch so mächtig, derart unterwürfig aufführt. Und ehemalige DDR-Bürger erinnern sich an Erich Honecker, der bei seinen Treffen mit den führenden Genossen aus Moskau mit gespitztem Mund zum Bruderkuß ansetzte.

Gaucks politische Karriere begann mit der Berufung zum Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde. Während die Menschen in der Ex-DDR durch den Umbruch paralysiert, die alten Eliten abgesetzt oder verstummt waren, verfügte Gauck über eine macht- und öffentlichkeitswirksame Stellung, die er rhetorisch zu nutzen verstand. Mit seiner betonten Abgeklärtheit profilierte er sich als einer der ersten, die – wie es damals hieß – im Westen „angekommen waren“. Sein spezielles Rezept bestand darin, den von der Wiedervereinigung gleichfalls verunsicherten Westdeutschen die Großartigkeit ihres Systems – das er viel zu wenig kannte – zu bestätigen und seine Feststellung mit der eigenen widerständigen DDR-Biographie zu beglaubigen.

Das war ein großartiger dialektischer Kniff, der verdeckte, daß er selten politisch und historisch argumentierte. Er sprach kaum darüber, wie stark die Intensität der Stasi-Spitzelei mit der deutschen Teilung zusammenhing, die nicht primär in der Verantwortung der SED, sondern in der Logik des Ost-West-Konfliks lag und ein gemeinsames Interesse der Siegermächte war. Dieses Geflecht aus ideologischen und machtpolitischen, oft gegenläufig wirkenden Konflikten und Interessen im Kalten Krieg hat Gauck bis heute nicht wirklich begriffen. Daher repräsentieren die USA für ihn pauschal das Gute und ist ihm ein US-Dissident wie Snowden unverständlich. Es erstaunt kaum, wenn er gegenüber Obama kein gesamtdeutsches Selbstbewußtsein, sondern den alten Minderwertigkeitskomplex aus der Zeit der Teilung vorführt.

Die deutsche Wiedervereinigung war eben ein geistiges Elend, was auch mit der Schwäche der DDR-Opposition zu tun hatte. Sie steuerte einen hohen moralischen Anspruch, aber kaum analytische Kompetenz und diskutable Ideen bei.

Eine Ausnahme bildete der „Berliner Appell“ aus dem Jahr 1982, der sich gegen die Stationierung neuer Atomraketen in beiden deutschen Staaten wandte. Das geteilte Deutschland sei zur Aufmarschbasis der beiden großen Atommächte geworden, heißt es. Der Gegenvorschlag lautete: „Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs müssen endlich die Friedensverträge mit beiden deutschen Staaten schließen (...). Danach sollen die ehemaligen Alliierten ihre Besatzungstruppen aus Deutschland abziehen und Garantien über die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der beiden deutschen Staaten vereinbaren.“

Das war zu dem Zeitpunkt nicht praktikabel, aber für die Zukunft bedenkenswert. Ein paar Jahre später erinnerte sich daran kein Mensch mehr. Es kam der Beitritt der DDR zum Bundesgebiet nach Artikel 23 Grundgesetz. Statt der fälligen Deutschland- folgte eine endlose Stasi-Debatte und schließlich Joachim Gauck.

Foto: Bundespräsident Joachim Gauck mit US-Präsident Obama am 19. Juni vor dem Schloß Bellevue in Berlin: Tränen in den Augen

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