© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/13 / 09. August 2013

Allzu schnell kommt das Kalifat wohl nicht
Bat Ye’ors Warnungen vor der Islamisierung Europas bleiben in Mutmaßungen stecken
Gabriel Burho

Das vorliegende Buch der unter dem Pseudonym Bat Ye’or schreibenden britischen Autorin Gisèle Littman ist vor allem eines: Eine Apologie für Israels Palästinenserpolitik und eine ausgearbeitete Zentralsteuerungshypothese.

Wie das Zitat „Israel wurde aus der Befreiung von Mann und Frau aus der Sklaverei geboren und ihre neue Freiheit brachte die moderne Verantwortung hervor, deren Merkmale seit der Antike wesensgleich mit der Bedeutung Israels sind“ auf Seite 193 offenbart, kann sie weder ihre unkritisch proisraelische Haltung noch ihren jüdischen Glauben zugunsten einer wissenschaftlichen Intersubjektivität beiseite schieben.

So argumentiert sie mit der Thora, um die Ansprüche des jüdischen Volkes auf den Staat Israel zu untermauen, dessen Gebiet sie zum „Stammland der Juden“ erklärt. Dabei vergißt sie allerdings zu erwähnen, daß – zumindest laut den biblischen Texten – die Landnahme des Volkes Israel als blutiger Krieg gegen dessen vorherige Bewohner geschildert wird. Eines Krieges, der mitunter genozidale Züge annahm, aber dennoch im Verständnis der Bibel gerechtfertigt war, da er schließlich auf Gottes Befehl hin begonnen und mit seiner Hilfe gewonnen wurde.

Ein ähnliches Argumentationsmuster wirft Bat Ye‘or jedoch an anderer Stelle dem islamischen Geschichtsverständnis vor, wenn sie hervorhebt, daß die heutigen islamischen Länder bis zur arabischen Expansion vor allem von jüdischen und christlichen Gemeinschaften bewohnt wurden.

Während in diesen Passagen allerdings eher die zugrundeliegende Einstellung der Autorin durchscheint, entwickelt das eigentliche Thema des vorliegenden Buches eine Theorie, deren zentrale Aussage sich wie folgt zusammenfassen läßt: Europäische Eliten befördern systematisch und bewußt eine Unterwanderung der europäischen Gesellschaft durch Muslime, um so eine neue islamisch geprägte Leitkultur zu schaffen.

Verantwortlich für diese großangelegte Verschwörung sind zum einen alte NS-Seilschaften, die an eine alte nationalsozialistisch-arabische Allianz anknüpfen wollen und zum anderen die Furcht Europas vor dem islamischen Terrorismus, vor dem man sich durch Appeasement zu schützen glaubt. Geplant und ausgeführt wird dieses Projekt durch den Interkulturellen Dialog zwischen der EU und der OIC (Organisation der islamischen Länder), in der die Autorin das Verwaltungsinstrument eines „kommenden Kalifats“ zu erkennen glaubt. Auch die UN seien bereits unter der Kontrolle der OIC und betrieben zunehmend einen „Palästina-Opfer-Kult“ nebst anti-israelischen Maßnahmen. Die wichtigsten Werkzeuge sieht sie im Multikulturalismus – dessen Toleranzforderung freilich nur von europäischer Seite erfüllt werde – und der Stigmatisierung aller Gegner durch den neuen Vorwurf der „Islamophobie“.

Was sie dabei ausblendet, ist die Tatsache, daß trotz des Vorhandenseins der OIC und anderer Interessenverbände der Islam nicht als monolithischer Block gedacht werden kann. Auch die genannten islamischen Staaten folgen Churchills Weisheit, nach der Staaten keine Freunde, sondern lediglich Interessen haben. Die militärischen Erfolge Israels gegen seine arabischen Nachbarn lassen sich in erster Linie auf deren Uneinigkeit zurückführen.

Gilt dies für Staaten, hat es um so mehr Bedeutung für die Moslems in Europa, für die sich nicht einmal ein kleinster gemeinsamer Nenner definieren läßt, der es ihnen erlaubt, sich alle gegenseitig als Moslems anzuerkennen – hier sei auf die Ahmadiyya oder die Aleviten verwiesen. Auch Ye’ors Hinweis das sich die OIC als oberste Instanz der Muslime in Europa verstünde (und mit deren Hilfe ein europäisches Kalifat vorbereitet) mag zwar den Wunsch der OIC wiedergeben, wird aber beispielsweise von der türkischen Ditib kaum unwidersprochen bleiben. Wie bei dieser Diversität eine gesteuerte Unterwanderung Europas umsetzbar sein soll, bleibt fraglich und wird von der Autorin auch nicht thematisiert.

Bei aller Kritik muß festgestellt werden, daß sie auch einige wirklich diskussionswürdige Punkte streift. So zum Beispiel, daß die wachsende politische Macht der Europäischen Union nicht mit einer besseren demokratischen Legitimierung einhergeht, das Diskursverbote zu bestimmten Themen (Euro, Islam, Umwelt usw.) durch verbale Alternativlosigkeit aufgerichtet werden oder daß die EU in ihrem Umgang mit anderen Staaten durchaus doppelzüngig agiert, was Menschenrecht und Demokratie betrifft.

Sie liegt zudem richtig darin herauszustellen, daß islamische Friedens- und Freiheitskonzepte von entsprechenden europäischen zu unterscheiden sind, doch sie verkennt, daß dafür nicht die jüdisch-christliche Tradition – was auch immer unter diesem Konstrukt verstanden werden soll –, sondern die Aufklärung verantwortlich ist.

Der Graben verläuft nicht zwischen Christen und Muslimen, sondern zwischen Säkularität und Religiosität. Entsprechend läuft auch ihre Kritik des Multikulturalismus ins Leere. Toleranz ist kein Attribut monotheistischer Religionen, sondern eine notwendige Forderung aufgeklärter Staaten. Monotheismen können allein aus ihrem Grundverständnis heraus nicht alle Glaubensauffassungen als gleichwertig anerkennen. Die Praxis staatlicher europäischer Gerichte mit koranischen Geboten zu vergleichen, zeigt also wieder die sprichwörtliche Analogie zu den Äpfel und Birnen.

Auch ihr Vorwurf, daß islamische Staaten Terroristen nicht nach ihren Handlungen, sondern nach ihren Motiven beurteilten, verliert an Schärfe, wenn man bedenkt, daß die Uno bis heute keine Definition des Terminus Terrorismus beschließen konnte, weil vor allem die USA immer wieder intervenieren mußte, um ihren Interessen dienende „Freiheitskämpfer“ aus dem Definiendum herauszuhalten.

Ob das Ungleichgewicht zwischen den Freiheiten, die westliche Staaten gewähren, die aber Bürger aus Europa oder Amerika in vielen islamischen Staaten nicht genießen, dazu führen sollte, daß für deren Staatsbürger auch die Rechte bei uns eingeschränkt werden sollte, findet wohl kaum einen Konsens.

Auch der Diskurs darüber, welche Stellung Glaube und Religion in unserer Gesellschaft haben sollten, ist wichtig und müßte geführt werden. Diesem Diskurs jedoch tun Publikationen wie das vorliegende Werk keinen Gefallen, da sie notwendige Fragen in den Bereich der Verschwörungstheorien hineinziehen und damit delegitimieren.

Bat Ye’or: Europa und das kommende Kalifat. Der Islam und die Radikalisierung der Demokratie. Duncker & Humblot, Berlin 2013, broschiert, 263 Seiten, 24,90 Euro

Foto: Muslima vor den Fahnen der Organisation für Islamische Kooperation (OIC), Istanbul 2011: Es läßt sich kein gemeinsamer Nenner definieren

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