© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/13 / 09. August 2013

Deformierte Schmetterlinge und radioaktive Heuernten
Zwei kaum beachtete, aber brisante Studien über die langanhaltenden Folgen von Fukushima und Tschernobyl
Christoph Keller

Die „größten anzunehmenden Unfälle“ (GAU), die sich 1986 im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl und 2011 im japanischen Fukushima I ereigneten, werden die Forschung noch Jahrzehnte beschäftigen. Insofern stellt die Präsentation jüngster Studien zu den ökologischen Auswirkungen dieser Katastrophen nur den Auftakt zu einer Serie von Untersuchungen über die Schäden radioaktiver Strahlung dar.

Die LDP-Regierung von Shinzo Abe und die verbandelte Atomlobby in Japan setzen auf Verharmlosung und Vertuschung. Daß etwa in den vergangenen zwei Jahren kontinuierlich radioaktiv belastetes Wasser in den Pazifik floß, gab der AKW-Konzern Tepco erst am 22. Juli zu – zufällig einen Tag nach der Oberhauswahl, die der LDP die Mehrheit sicherte. Das auslaufende Wasser war mit einer Strahlendosis von 3,1 Milliarden Becquerel pro Liter fast so stark verseucht wie im April 2011. Die staatliche Forschungsorganisation AIST rechnet inzwischen mit Sanierungskosten von umgerechnet 44 Milliarden Euro – den Hauptteil muß der Steuerzahler tragen.

Daß die Katastrophe große Mengen radioaktiven Materials freisetzte, ist unstrittig. Dabei handelt sich um Jod-131 mit einer Halbwertzeit von einer Woche, um Cäsium-137, das in 30 Jahren zerfällt, aber auch um extrem giftiges Plutonium-239 und -241, dessen „Haltbarkeitsdatum“ menschlich vorstellbare Zeiträume übersteigt.

Rund um die AKW-Ruine, nur 240 Kilometer nordöstlich von Tokio gelegen, haben sich die fatalen Folgen des radioaktiven Niederschlages in Windeseile realisiert. Atsuki Hiyama und seine Arbeitsgruppe (University of the Ryukyus/Okinawa) fanden im Japanischen Bläuling (Zizeeria maha) ein Studienobjekt, an dem sich durch Nuklide induzierte genetische und physiologische Defekte bereits wenige Wochen nach dem GAU nachweisen ließen. Schon bei den Schmetterlingen der ersten Jahresgeneration, die dem Atomdesaster als Larven ausgesetzt waren, fand Hiyama Anomalien. Sie hatten signifikant kürzere Flügel als ihre Artgenossen im 180 Kilometer südlich gelegenen Tsukuba.

Auch im September 2011 gefangene Falter der vierten bis fünften Generation ließen deformierte Beine, Antennen sowie Abweichungen im Farbmuster der Flügel erkennen. Die doppelt so hohe Anomalitätsrate erklären die Wissenschaftler mit Genschäden, und nicht mit nur physiologischen Störungen als Folge erhöhter radioaktiver Strahlung. So hätten Falter 60 Kilometer westlich des Unglücksreaktors äußerlich unversehrt ausgesehen, während ihre Nachkommen auffällige Mißbildungen zeigten.

Diese japanischen Fakten korrespondieren mit einer von der Petersburger Akademie der Wissenschaften publizierten weißrussischen Studie, die für 1997 bis 2006 die Langzeitfolgen der Kernschmelze in Tschernobyl dokumentiert. Auch 20 Jahre nach dem GAU kam es in Regionen, die bis zu 300 Kilometer vom Kraftwerk entfernt liegen, zu einer deutlichen Erhöhung strahlenbedingter Erkrankungen, zu Schädigungen des Magen-Darm-Trakts und der Leber.

Besonders die Grenzterritorien, mit Städten wie Gomel und Mogilew, wo ein Drittel der weißrussischen Bevölkerung lebt, galten im Untersuchungszeitraum als erheblich mit Radionukliden belastete Zone. Und nach wie vor dürften die Menschen „innerer Strahlung“ ausgesetzt sein, die auf Radionuklide zurückzuführen ist, die in Futter- und Lebensmitteln enthalten sind. Cäsium-137 und knochenschädliches Strontium-90 haben sich in regionalen Produkten wie Fleisch, Milch und Knollenfrüchten angereichert. Sie belasten weiter 60 bis 95 Prozent der Menschen und Tiere in der Region. Hauptquelle des verseuchten Futters bleibt das natürliche Weideland. Jede Heuernte fährt radioaktiven Nachschub ein. Obwohl man aufgrund der relativ kurzen Halbwertzeiten von Cäsium und Strontium erwarten sollte, daß die Strahlenbelastung sinke, sei es nicht gelungen, die immer noch überdurchschnittlich steigende Zahl von Krebserkrankungen in weißrussischen Regionen zu reduzieren.

Offenbar habe die Bevölkerung zu lange Lebensmittel konsumiert, deren radioaktive Belastung zwar jeweils unter den Grenzwerten lag, die aber allein durch ihre Menge beträchtliche Belastungen verursachten. Ein Befund, der zugleich die gefährliche Problematik von Grenzwertbestimmungen aufzeige.

Naturwissenschaftliche Rundschau 7/13: www.naturwissenschaftliche-rundschau.de

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