© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/13 / 09. August 2013

Eine Welt ohne Krise
Mittelalterfeste liegen im Trend / Bei Zahnschmerzen doch lieber im Hier und Heute
Bernd Rademacher

Das Mittelalter wird oft mit dem Attribut „finster“ verbunden. Beim Mittelalter denkt der Humanist an Pest, Hexenwahn und Daumenschrauben. Eine große Szene in Deutschland denkt dabei viel eher an Minne, Zuberbad und Festgelage. Im 21. Jahrhundert liegt das Mittelalter wieder voll im Trend.

Ein Leben ohne Eurokrise, Facebook und Burnout, eine festgefügte Gesellschaft und ein übersichtliches Weltbild, das ist für eine wachsende Zahl von Zeitreisenden attraktiv. Sie tummeln sich auf Mittelaltermärkten, Konzerten mittelalterlicher Musik oder Rollenspiel-Messen. Der „Rückfall ins Mittelalter“ hat hier eine positive Bedeutung.

Das soziale Spektrum reicht durch sämtliche Altersstufen und Milieus. Was die Freundeskreise eint, ist ihre Begeisterung fürs Rittertum. Was sie unterscheidet, ist der Grad der Authentizität. Während einige Gruppen großzügig über historische Holprigkeiten hinwegsehen und zum Beispiel auch Brillenträger akzeptieren, ist dies bei den Puristen undenkbar. Doch auch bei diesen Hardcore-Fans hört die mittelalterliche Detailliebe auf, sobald sie Zahnschmerzen bekommen ...

In der Musikszene des Mittelalters spricht man nicht von „Bands“, sondern von Spielleuten, die statt zur elektrischen Gitarre zu Sackpfeife, Laute und Drehleier greifen. Instrumentenbauer wie Helmut Gotschy aus Herrenstetten an der Iller bei Ulm fertigen und versenden Drehleiern nach historischem Vorbild. Ein boomender Markt: In vier Jahren hat Gotschy zweihundert Exemplare seines günstigsten Einsteigermodells verkauft. Damit beschallen die Spielleute die Mittelaltermärkte zwischen Küste und Alpen oder pilgern zum „Montalbâne“, den internationalen Tagen der mittelalterlichen Musik auf Schloß Neuenburg in Freyburg an der Unstrut, dem „Woodstock-Festival“ der Dark-Age-Szene.

Mittelalterfeste sind ein großes Segment im Event-Geschäft und werden von zahlreichen spezialisierten Agenturen organisiert. Mehrere Veranstaltungen konkurrieren um den Titel der größten Heerschau, wie die Landshuter Hochzeit, nach eigenen Angaben „das größte Mittelalterfest in Europa“ oder das Mittelalterlich Phantasie Spectaculum, das gar „das größte reisende Mittelalter-Kulturfestival der Welt“ sein will.

Zum Konzept gehört, daß lokale oder mobile Mittelaltergruppen den Troß bilden, sozusagen als nutzergenerierter Inhalt. Viele Fans verbringen den Sommer damit, von Fest zu Fest zu ziehen und dort ihre Kampf- oder Handwerkskünste vorzuführen. Ganze Familien tauschen im Urlaub die Strandmode gegen ein Wams aus Sackleinen und werden zur mittelalterlichen Sippe. Wie gut, daß aber wenigstens die Sanitäranlagen der Mittelaltermärkte nicht mehr dem Standard von 1300 entsprechen!

Innerhalb der Hobbyzirkel sind Subgenres entstanden: da gibt es Slawen, Wikinger, Schotten oder postmittelalterliche Wallenstein-Lager. Auch die fiktiven Orks aus Tolkiens „Herr der Ringe“ werden durch unglaublichen Kostümaufwand zum Leben erweckt.

Manchen reicht es nicht, nur in der Mode des 10. Jahrhunderts herumzulaufen, sie wollen die richtige Action. Beim „Reenactment“ geht es vor allem um Kampftechniken. So stellt der Kölner Verein „Mittelalter-Vollkontakt“ der deutschen Schwert- und Roßfechter regelmäßig die Schlacht auf dem Amselfeld 1389 zwischen der serbischen Koalition und dem osmanischen Heer nach. Klar, daß es dabei reichlich blaue Flecken und Rippenprellungen gibt. In diesen Kreisen sind Hilfsmittel der letzten tausend Jahre schwer verpönt. Der Schild besteht aus Holz, bespannt mit Tierhaut und Leinen, das mittels Kleber aus gekochter Fischblase präpariert ist. Übernachtet wird in der Jurte, die aus gezwirbelten Ziegenhaaren gewebt wurde. Diese Spezialisten sind für den Euro-Crash bestens gerüstet ...

An Universitäten mehrerer Bundesländer haben Arbeitsgruppen der Institute für experimentelle Archäologie mittelalterliche Wurfmaschinen nachgebaut. Die „Bliden“ kommen auch bei öffentlichen Veranstaltungen zum Einsatz. Hier werden aus Sicherheitsgründen allerdings wassergetränkte Softbälle gegen Burgmauern geschleudert, obwohl die Ungetüme mit ihren bis zu 20 Meter langen Wurfarmen Felsbrocken von über zehn Kilo Gewicht rund 300 Meter weit schleudern können. Kadenz: zwei Schuß pro Stunde.

Wem das zu anstrengend ist, der kann sich in zahllosen Rollenspielklubs einfach in seiner Phantasie auf die Reise ins Mittelalter machen. Doch führt diese überhaupt zum Ziel? Nach der Phantomzeit-These des deutschen „Chronologiekritikers“ Heribert Illig ist das Mittelalter bloß eine gigantische Geschichtsfälschung und hat nie stattgefunden ...

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