© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/13 / 16. August 2013

„Das annehmbarste Angebot ist nicht das billigste“
Interview: Der Neubau und Erfolg des Münchner Großflughafens hätte Vorbild für das skandalöse Hauptstadtprojekt BER sein können
Wolfhard H. A. Schmid

Der Skandal um den für 27 Millionen Passagiere konzipierten Hauptstadtflughafen BER läßt am Qualitätssiegel „Made in Germany“ zweifeln. Der 1992 eröffnete Großflughafen München – Nummer zwei in Deutschland und Rang sieben in Europa – ist mit 38 Millionen Passagieren hingegen eine Erfolgsgeschichte. Herr Steffen, Sie waren bei der Errichtung des Großprojekts 30 Kilometer nordöstlich von München für den gesamten Planungsbereich zuständig – und von Beginn an dabei.

Steffen: Die „Oechsle-Kommission“ um den früheren bayerischen Arbeitsminister Richard Oechsle (SPD) beauftragte das Münchner Ingenieurbüro Becker mit einer Standortsuche, die von 1962 bis 1964 dauerte. Das kleine Team, dem ich angehörte, sollte die Standorte Erdinger Moos, Hofoldinger Forst und Hörlkofener Wald bewerten. Mein Favorit war von Anfang an das Erdinger Moos. Am 1. April 1964 wechselte ich als Planungsingenieur zur Flughafengesellschaft. In den Jahren 1967 bis 1969 wurde für zwei Standorte ein Raumordnungsverfahren durchgeführt, das mit dem Vorschlag endete, den neuen Flughafen im Erdinger Moos zu errichten.

Warum erlebte Riem, wie Berlin-Tegel, zunächst einen zweiten Frühling?

Steffen: Als München den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 1972 erhielt, galt es zunächst, die baulichen Anlagen, insbesondere den Passagierabfertigungsbereich für den Olympialuftverkehr zu erweitern. Die Planung stand unter erheblichem Zeitdruck, war aber spannend und schließlich erfolgreich. Der 1939 eröffnete Flughafen München-Riem lebte mit diesen Anlagen bis zu seiner Schließung 1992.

1972 wurden sie beim Neubauprojekt Planungschef und erhielten Prokura. Wie war die Verantwortung im Projekt organisiert?

Steffen: An der Flughafengesellschaft FMG waren und sind mit 51 Prozent der Freistaat Bayern, mit 26 Prozent die Bundesrepublik Deutschland und mit 23 Prozent die Stadt München beteiligt. Alle drei waren im Aufsichtsrat vertreten. Den Vorsitz hatte anfangs der Bayerische Staatsminister für Wirtschaft und Verkehr, später der jeweilige Staatsminister der Finanzen inne. Der Aufsichtsrat bestellte einen Arbeitsausschuß, der die Aufsichtsratssitzungen vorbereitete.

In der Bauphase gab es allerdings zusätzlich einen Vergabeausschuß.

Steffen: In Abhängigkeit von der Vergabesumme entschieden über die Bau- und Lieferleistungen entweder die FMG allein oder der Vergabeausschuß bzw. der Aufsichtsrat. In regelmäßigen Sitzungen wurde über unsere Anträge und Vorschläge beraten und beschlossen. Die Politik selbst mischte sich in die Planungs- und Bauaktivitäten nicht ein. Wir hatten ein gut funktionierendes System von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Bei der Planung haben wir mit den Architekten – wo immer möglich und sinnvoll – Generalplanerverträge geschlossen. Die planenden Architekten waren so für ihr Bauwerk und die Koordinierung aller ihrer Fachplaner verantwortlich.

Das Gesamtbauvorhaben war in vier Baumanagements (BM) aufgegliedert.

Steffen: Ja, BM 1 für die Passagierabfertigungsanlagen, BM 2 für die Hangars und die Anlagen für Fracht und Post, BM 3 für alle baulichen Anlagen des nördlichen Bebauungsbandes mit Werkstätten, Energiezentrale, Catering, und Flugsicherung sowie BM 4 für sämtliche Ingenieurbauten mit Startbahnen, Rollbahnen, Vorfeldern, Straßen, Plätzen und Brücken sowie Tunnelbauwerke. Jedes der vier BMs mußte ein eigenes komplettes Projektmanagement mit Termin- und Kostenkontrolle vorhalten. Ein übergeordneter Projektkoordinator hatte die Aktivitäten der vier Baumanagements zu steuern und zu koordinieren. Ein zusätzliches übergeordnetes Gesamtkostencontrolling sorgte für Transparenz bei den Planungs- und Baukosten. Selbstverständlich war die FMG mit ihrer Planungsabteilung sowie den kaufmännischen und juristischen Abteilungen in wöchentlichen Arbeitsbesprechungen über alle Vorgänge zu unterrichten und an den Entscheidungsfindungen zu beteiligen.

Dennoch gab es Bauverzögerungen.

Steffen: 1981, zwei Jahre nach der Planfeststellung mit Sofortvollzug, führten Klagen zu einem Baustopp bis 1984. Geplant waren ursprünglich zwei Hauptstart- mit zwei Nebenbahnen, wobei für uns erschwerend hinzukam, daß die Lufthansa zu dieser Zeit für ihre Expansionspläne des Frankfurter Flughafens keine Chance sah und deshalb in München ein zweites Drehkreuz etablieren wollte. Es war für uns absehbar, daß zwei Start- und Landebahnen für künftigen Luftverkehr nicht ausreichen. Das Gericht ließ sich aber nicht überzeugen, bezeichnete die Planung als „eine Summe von Großzügigkeiten“ und strich zwei für den künftigen Ausbau vorgesehene und luftrechtlich bereits genehmigte Startbahnen aus der Planung heraus. Heute muß die FMG um den Bau der für den weiter wachsenden Luftverkehr zusätzlich benötigten Startbahn regelrecht kämpfen.

Nach Aufhebung des Baustopps waren – aufgrund der gestiegenen Anforderungen – Um- und Neuplanungen für zusätzliche Baumaßnahmen zu bewältigen.

Steffen: Eine spannende Periode! Anderthalb Jahre vor der geplanten Inbetriebnahme des Flughafens wurde – um eventuelle Probleme mit dem doch komplexen System von Verantwortlichkeiten in der Schlußphase von vornherein auszuschließen – vom Aufsichtsrat ein „Generalbevollmächtigter Bau“ bestellt, der alle Entscheidungsbefugnisse, ausgenommen die des Aufsichtsrates selbst, auf sich vereinigte. Die Verantwortlichkeiten der Baumanagements waren dabei nicht berührt, aber die notwendigen Entscheidungen bei sich ankündigenden Problemen im Bauablauf konnten vom Generalbevollmächtigten entscheidend beschleunigt werden.

Der Flughafen München war öffentliches Projekt. Inzwischen werden Infrastrukturprojekte zunehmend in sogenannter öffentlich-privater Partnerschaft (Public Private Partnership/PPP) organisiert.

Steffen: Die PPP-Idee stammt aus den USA, weil man der Auffassung war, daß private Unternehmen bestimmte Aufgabenbereiche besser erledigen könnten als staatliche Verwaltungen. Mancherorts ist die Privatisierung aber überzogen worden. Manchmal stehen Firmeninteressen zu sehr im Vordergrund, während die Nutzerinteressen vernachlässigt werden. Im Hinblick auf den Flughafen München kann man wohl sagen, daß die praktizierte Mischung aus übergeordneter staatlicher Verantwortung und privatwirtschaftlicher Beteiligung zu einer Art Optimum geführt hat.

Bei öffentlichen Ausschreibungen wird oft nach dem Motto verfahren: Der preisgünstigste Anbieter erhält den Zuschlag. Wie haben Sie dieses Problem gelöst?

Steffen: Ein Bauherr hat stets das Bestreben, den Auftrag „kostengünstig“ zu vergeben. Das heißt aber nicht „billigst“. Die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB) sieht vor, daß das „annehmbarste Angebot“ beauftragt werden kann. Neben dem Preis, der nicht überhöht sein darf, sind hier die Zuverlässigkeit und Qualifikation des Bieters sowie die Qualität des Angebotes selbst relevant. Das annehmbarste Angebot ist jenes, das eine ordnungsgemäße qualitätvolle Bauausführung im Sinne der Ausschreibung – möglichst ohne unerwünschte Nachträge – erwarten läßt.

Trotzdem flatterten Ihnen während der Bauphase immer wieder neue Wünsche der künftigen Nutzer auf den Tisch.

Steffen: Das führt zu Änderungen, und diese bringen meistens Kostenerhöhungen und häufig auch Terminverschiebungen. Es kommt dann auf das Geschick der Auftraggeber zusammen mit ihren Planern an, die Abläufe im Griff zu behalten und die Termine einzuhalten. Wir hatten eine besonders starke Zunahme des Fracht- und Passagierverkehrs zu bewältigen. Diese Änderungen waren aber wirklich notwendig, um einen funktionstüchtigen Baukörper zu gestalten, der auch 20 Jahre nach seiner Inbetriebnahme noch seine verkehrlichen Aufgaben erfüllen kann. Das klappt nur, wenn das Management den Durchblick behält und alle Beteiligten ihr Handwerk verstehen und an einem Strang ziehen.

Der Umzug von Tegel und dem früheren Zentralflughafen in Schönefeld zum BER steht Berlin noch bevor. Den Flugbetrieb zu schließen und ihn schon am Folgetag am neuen Standort fortzusetzen, war in München eine logistische Meisterleitung. Ist so etwas heute noch möglich?

Steffen: Ja, natürlich! Entscheidend für den Erfolg war die zweijährige Vorbereitung. Es wurde ein strategisches Konzept entwickelt, das auf einer sehr engen Verflechtung von Planung und Betrieb basierte. Das gesamte Personal wurde umfassend und frühzeitig geschult. Zusätzliche Kräfte wurden eingestellt, weil die Mitarbeiter sowohl ihren Dienst am alten Arbeitsplatz leisten und gleichzeitig am neuen, häufig ganz anders gestalteten Arbeitsplatz am neuen Flughafen eingewiesen werden mußten. Dies galt für alle Bereiche, angefangen beim modernen Gebäudemanagement, über die Werkstätten bis hin zu dem Passagierservice-Personal. Wichtig war auch, daß die Fachabteilungen des alten Flughafens die Funktionstüchtigkeit der Anlagen am neuen Flughafen rechtzeitig und permanent im Auge hatten.

 

Manfred Steffen, ist Diplomingenieur. Bis 1992 war er Planungschef des Flughafens München. Derzeit ist er Berater bei einem Flughafenprojekt in Botswana.

 

Wirtschaftsfaktor Großflughafen

Der staatliche Atlanta International Airport ist mit jährlich über 95 Millionen Passagieren der größte Flughafen der Welt und mit mehr als 55.000 Beschäftigten der wichtigste Arbeitgeber im US-Bundesstaat Georgia. 1980 eröffnet und für 55 Millionen Fluggäste konzipiert, wird das Luftdrehkreuz seit 1999 kontinuierlich erweitert. Der jüngste Ausbau für 1,4 Milliarden Dollar begann im Sommer 2008 und ging im Mai 2012 planmäßig in Betrieb. 2015 sollen in Atlanta 121 Millionen Passagiere abgefertigt werden. In Euro­pa schickt sich der Atatürk-Flughafen in Istanbul mit Wachstumsraten von 20 Prozent an, bald Frankfurt und Paris zu überholen. Am „Franz Josef Strauß“-Flughafen München wurden voriges Jahr 38,4 Millionen Passagiere abgefertigt. Der Flughafen sowie die dortigen Firmen und Behörden beschäftigen über 30.000 Mitarbeiter. Um das für 2025 prognostizierte Passagieraufkommen von 58 Millionen bewältigen zu können, ist eine dritte Startbahn geplant. Der dafür 2011 erlassene Planfeststellungsbeschluß wurde jedoch 2012 durch einen Bürger­entscheid mit 54,3 Prozent abgelehnt.

 

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