© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/13 / 16. August 2013

Hauptsache ankommen
Das halbe Land läuft Marathon, obwohl wir gar keinen Krieg mit Persien haben
Bente Holling

Keine Kommune über hunderttausend Einwohner kann heute noch auf eine Stelle für Stadtmarketing verzichten. Im Werkzeugkasten der Städtereklame ist der Volkslauf eines der beliebtesten Instrumente. Von Füssen bis Flensburg, von Bochum bis Berlin – Deutschland rennt. Marathonlauf ist Breitensport.

Erstaunlich, wo doch selbst immer mehr Bundeswehrrekruten wegen Übergewicht an der Hindernisbahn scheitern. Entwickelt sich eine Schere, die unsere Gesellschaft in adipöse Unterschichtfernsehgucker einerseits und beinharte Dauerläufer andererseits spaltet?

490 vor Chr. lief der Bote Pheidippides vom Ort Marathon nach Athen, um zu melden, daß es im Krieg gegen die Perser zum 1:0 gereicht hatte. Was sind das für Leute, die freiwillig dieselbe Distanz auf sich nehmen, obwohl sie sich gar nicht im Krieg mit Persien befinden?

Dabei geht auch der zivile Marathonlauf nicht ohne Verluste ab: Vor wenigen Jahren brachen beim Ruhr-Marathon zwei Läufer tot zusammen. Orthopäden berichten von gehäuften „Marschfrakturen“ – das sind Brüche des Mittelfußknochens durch Überlastung, wie sie sonst nur bei Soldaten nach 30 Kilometern Gepäckmarsch vorkommen. Hinzu kommen Risse, Zerrungen, Dehnungen, Stürze – und auch unter den Trennungsgründen von Paaren läuft die Marathon-Manie schon im Mittelfeld mit ...

Um das Risiko gering zu halten, laden Sportmediziner vor Ort zu öffentlichen Seminaren ein und veröffentlichen Ratgeber, zum Beispiel „42 Tips für 42 Kilometer“. Bei den Seminarveranstaltungen beantworten die Koryphäen auch Fragen der Läufer, wie „Nach einer halben Stunde Laufen schläft mir immer mein linker Fuß ein. Was soll ich tun?“ Die kompetente Antwort: „Das Einschlafen ist Folge der Kompression eines Nervs. Ursache kann ein zu eng geschnürter Schuh sein. Meistens liegt aber ein anatomisches Problem zugrunde, wie eine Fehlstellung des Fußes. Dann sind Einlagen sinnvoll.“

Lauftreffs bieten gemeinsame Vorbereitungsläufe in geführten Gruppen an. Hier wird bereits aussortiert. „Besonders die längeren Einheiten an den letzten Wochenenden vor dem Marathon sind für viele eine mentale Hürde, und sie scheitern dabei häufig an Motivationsproblemen“, sagt ein Organisator der „German Road Races“.

Doch die Rennärzte der GRR kriegen so gut wie jeden „mv“ („marathonverwendungsfähig“). Selbst Diabetes ist kein Schonungsgrund mehr: Experten für Innere Medizin klären Zuckerkranke über die richtige Vorbereitung für den Marathon auf. Und dann geht’s zur Pasta-Party, um sich die nötigen Kohlenhydrate reinzuschaufeln – zum Frühstück drei Teller Spaghetti und zwei Bananen ...

Die Attraktivität der Kulissen ist sehr unterschiedlich. Schließlich ist es bedeutend netter, durch die historische Altstadt von Heidelberg zu laufen, als durch gesichtslose Gewerbegebiete. Damit auch ohne reizvolles Panorama beflügelnde Stimmung aufkommt, sorgen die Organisatoren am Streckenrand für ein Feuerwerk der Unterhaltung. Trommelgruppen, Cheerleader, Livemusik heizen den Vorbeikeuchenden ein. Die Autofahrer, die im Lokalradio den Hinweis auf die Vollsperrung der Laufstrecke verpaßt haben, können lange auf ihr Lenkrad trommeln, bis auch der Verkehr wieder läuft.

Derweil versuchen die angemeldeten Teilnehmer, einfach nur das Ziel zu erreichen und möglichst nicht Letzter zu sein. Manche setzen dabei auf technische Überlegenheit durch Kompressionsbekleidung. Die High-Tech-Stützstrümpfe verbessern den Rückstrom des Blutes in den Venen, verringern Muskelvibrationen und stützen das Sprunggelenk. Vor allem der psychologische Effekt auf die Träger ist sicher nicht zu unterschätzen.

Lohn der Investition sind Zieleinläufer-Medaillen, „Ich-war-dabei“-Hemden, Teilnehmerurkunden und in vielen Städten auch DVDs mit den Höhepunkten der Quälerei. Doch das ist nichts gegen den Jubel des Publikums und den Triumph über die eigene Bequemlichkeit. Wer tags drauf am Arbeitsplatz den Kollegen mit Bierbauch in der Zeitung seinen Namen in der Ergebnisliste wenigstens auf einem der vorletzten Plätze zeigen kann, weiß sich neidischer Bewunderung sicher.

Bestimmt bedient der Marathonlauf auch eine latente Sehnsucht der erlebnisarmen, individualisierten Wohlstandsgesellschaft: eine kollektive Bewährungsprobe.

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