© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/13 / 23. August 2013

„Nicht alle hier sind Dealer und Verbrecher“
Besuch in einem Armenviertel in Brasiliens Metropole Rio de Janeiro: Nur unter Führung eines bewaffneten Scouts wähnt man sich auf der sicheren Seite
Mario Jacob

Es ist noch früh. Doch die Sonne scheint schon kräftig vom blauen Himmel über der Metropole am Zuckerhut. Gleichmäßig rollen die Wellen an den breiten Sandstrand, der jetzt noch fast menschenleer ist. Schon in wenigen Stunden wird sich das ändern. Dann bevölkern Anwohner und Touristen die Copacabana.

Noch immer ist der wahrscheinlich bekannteste Strand der Welt Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt. Auch wenn mittlerweile die Strände von Ipanema der altehrwürdigen Copacapana immer mehr den Rang ablaufen. In der Ferne ist deutlich die über 30 Meter hohe Christus-Statue zu sehen. Mit weit ausgebreiteten Armen wacht der Erlöser hoch oben auf dem über 700 Meter hohen Corcovado über die Bewohner Rios. Und Schutz haben diese oft sehr nötig.

Vor dem berühmten Hotel „Copacabana Palace“, direkt am legendären und traumhaften Strand von Rio de Janeiro, steht breitbeinig Felipe. Hose und Hut sind in Olivgrün und stammen aus alten Armeebeständen. Den muskelösen Oberkörper zieren zahlreiche Tattoos. „I’m your scout today“, sagt er lächelnd. In seiner rechten Hosentasche kommt der Griff einer Pistole zum Vorschein. „For your safety“, meint Felipe grinsend, der seinen Lebensunterhalt mit Touristenführungen durch die Favelas verdient.

Dann geht es auch schon los. Vom Fünf-Sterne-Nobelhotel hinauf zu einem der ärmsten Orte der Stadt – der Favela Rocinha. Hier, im Süden von Rio, drängen sich an einem steilen Berghang geschätzt 150.000 Menschen auf engstem Raum – aber so genau weiß das eigentlich niemand. Die Behörden haben längst die Übersicht verloren. Besteht der Weg anfangs noch aus breiten Gehsteigen, werden diese urplötzlich immer schmaler, und schließlich geht es nur noch unzählige Treppen hinauf. Die Favela ist nur wenige Kilometer von den Nobelvierteln Leblon und Ipanema entfernt. Doch liegen dazwischen Welten. Hier regieren Kriminalität, Mord und Armut. In Leblon und Ipanema dagegen Reichtum, Schönheit und Extravaganz.

Neben kleinen Läden, Restaurants und Bars gibt es in Rocinha auch eigene TV- und Radiostationen. Rocinha ist eine Stadt mit eigenen Regeln und Gesetzen. Der Berghang ist ein einziges Labyrinth aus unzähligen Treppen und kleinen Gassen. Schmutzige und unverputzte Betonmauern mit Wellblechdächern reihen sich eng aneinander. Einige bestehen auch nur aus Holz.

Die Orientierung in dem Gewirr ist aussichtslos. Felipe ermahnt dann auch gleich, ihm dicht zu folgen. Wer sich hier verläuft, hat ein Problem. „Und bitte keine Fotos von den Leuten hier machen“, warnt Felipe. „Das mögen besonders die Drogendealer überhaupt nicht.“

Hier in Rocinha gibt es viele Waffen und noch mehr Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Schon viele Bewohner mußten hier ihr Leben lassen. Nicht immer waren es Mitglieder von rivalisierenden Drogengangs – auch zahlreiche Unschuldige gerieten zwischen die Fronten. Und immer mal wieder erwischt es auch Touristen. Meist waren diese alleine unterwegs. Eine leichte Beute für bewaffnete Banden. Die oft unter Drogeneinfluß stehenden Männer eröffnen das Feuer bei dem kleinsten Anzeichen von Widerstand.

Nach Angaben von „Nem“, einem berüchtigten Drogenboß, werden mit Drogengeschäften alleine in Rocinha monatlich eine Million Real, über 300.000 Euro, verdient. Offiziellen Angaben zufolge werden in Rio monatlich mehr als sechshundert Menschen ermordet. Die Drogenbosse führen ein strenges Kommando.

Das oberste Gebot lautet: Ruhe und Ordnung in der Favela. Denn nur so bleibt die Polizei fern. So werden schon mal für Diebstähle Finger abgehackt oder mit einer Kugel durchlöchert. Verräter werden in einen Reifenstapel gezwängt, mit Benzin übergossen und angezündet. Männer mit Pistolen oder umgehängtem Gewehr sind daher keine Seltenheit. Einzig verdutzte Touristen drehen sich besorgt um. Die Bewohner scheinen an den Anblick gewöhnt. Als ein junger Mann, der gelangweilt vor einer Bar steht, grinsend mit der Hand auf seinen Revolver klopft, erhöht Felipe das Tempo und biegt in die nächste Gasse ein. Der Revolvermann honoriert das mit einem Kopfnicken.

Die Favela Rocinha galt lange Zeit als einer der gefährlichsten Orte von Rio. Am 13. November 2011 stürmten Spezialeinheiten der Polizei das Armutsviertel. Viele Drogenbosse flohen oder wurden festgenommen. Seit dem Tag patrouillieren bewaffnete Polizisten rund um die Uhr. Hintergrund ist die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft 2014 sowie die Olympischen Spiele im Jahr 2016.

Die Hochburg von Mord und Totschlag soll dauerhaft befriedet werden. So zumindest der ehrgeizige Plan der Politiker. Momentan scheint ein wenig Ruhe eingekehrt zu sein. Doch die Ruhe ist trügerisch. Erst kürzlich ist ein deutscher Tourist bei einem Besuch der Rocinha angeschossen worden. Ein Bewohner fand den jungen Mann und brachte ihn in ein Krankenhaus. Er hat überlebt.

„Vielleicht ist es etwas sicherer geworden für die Touristen, aber für uns hat sich nichts geändert“, sagt Monica. Die hübsche junge Frau ist hier aufgewachsen. Eine Narbe ziert ihre rechte Schulter. „Erinnerung an einen Überfall vor vielen Jahren. Die haben gleich geschossen.“ Zum Glück war es ein glatter Durchschuß. Die Drogenbosse seien zwar fort, aber hier kannst du immer noch an jeder Ecke alle möglichen Drogen bekommen, sagt Monica. Zwar gebe es jetzt nicht mehr so viele Schießereien und Tote, aber mehr habe sich auch nicht getan, klagt die junge Frau.

Zwei Jahre nach der Erstürmung von Rocinha durch Sondereinheiten der Polizei ist noch immer kein Frieden eingekehrt. So gab es immerhin noch 13 Tote, darunter auch zwei Polizisten im Dienst. Im Unterschied zu früheren Zeiten wurden alle Morde innerhalb von 48 Stunden aufgeklärt – das ist ein Fortschritt, aber von Friede kann keine Rede sein. Im Gegensatz zur sinkenden Mordrate mehren sich nun jedoch Diebstähle. So klagen viele Ladenbesitzer über immer dreister werdende Diebstähle und Überfälle. Fanden diese früher überwiegend in der Nacht statt, so schlagen die Diebe heute auch tagsüber zu. Da es für die Drogendealer immer schwerer wird, Drogen zu verkaufen, suchen diese sich andere „Einnahmequellen“.

„Nach der WM 2014 wird sich zeigen, ob sich hier dauerhaft was ändert“, sagt Monica und verschwindet im Gewirr der Gassen. Nicht wenige Bewohner von Rocinha glauben, daß nicht sie, die Bewohner, sondern die Spekulanten profitieren werden. Immerhin ist der Blick von hier oben traumhaft. Dem Betrachter liegen die Strände von Rio quasi zu Füßen. Das dürfte auch für Immobilienspekulanten interessant sein.

„Nicht alle hier sind Drogendealer und Verbrecher“, sagt Felipe. Die meisten Bewohner der Favela seien rechtschaffene Menschen, die jeden Tag einer Arbeit nachgehen, betont er. José ist so einer. Nachdem er als Steward bei einer brasilianischen Fluggesellschaft entlassen wurde, wußte er erst mal nicht, wie es weitergehen sollte. Aber dann habe ihn ein Freund als Englischlehrer vermittelt, sagt José. Jetzt unterrichtet er seine Landsleute in Englisch, unten an der Copacabana. Mit dem Gehalt sei er sehr zufrieden, verrät José. Er glaubt fest an eine Zukunft. Auch für die Favela Rocinha Favela. „Die Polizei greift hart durch. Ich bin mir sicher, auch nach der WM 2014 wird es hier ruhig bleiben.“ Auch wenn er dann nicht mehr hier leben wird. Wenn alles klappt, will er in ein paar Monaten in ein besseres Viertel umziehen.

Auch wenn viele Drogenbosse nicht mehr da sind und die Polizei Dauerpräsenz zeigt, Frieden herrscht in Rocinha noch lange nicht. Aber vielleicht wird ja doch alles gut, nach der WM 2014. Dann wird er wahr, der Traum von José. Und Monica hätte sich geirrt.

 

Kriminalität in Rio de Janeiro

Aktuellen Angaben des US-Außenministeriums zufolge wird die Sicherheitslage in Rio weiterhin als „kritisch“ bezeichnet. Sorge bereite vor allem das steigende Anzahl der Verbrechen in den Kategorien Raub, Vergewaltigung, Entführung, Betrug und Diebstahl in den Elendsvierteln (Favelas). Positiv verweist der Bericht auf den Rückgang der Tötungsdelikte. Diese seien seit dem Jahr 2005 um mehr als 50 Prozent gesunken. Trotz dieses Rückgangs waren im Jahr 2012 1.209 Tötungsdelikte zu verzeichnen. Als wesentlicher Faktor für die Verringerung der Tötungsdelikte in den Hunderten Favelas von Rio wird die ständige Präsenz von 8.000 speziell ausgebildeten Polizisten betrachtet. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Denn ihre Zahl soll im Vorfeld der Fußball-WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016 noch einmal wesentlich erhöht werden. Parallel zum US-Department rät auch das Auswärtige Amt „dringend“ von Favela-Besuchen ab. Zwar sei es in Rio in den letzten Jahren gelungen, „einige Favelas im Innenstadtbereich durch zusätzliche Polizeieinheiten deutlich sicherer zu machen. Trotzdem sollte ein Besuch nur in Begleitung von Ortskundigen in Erwägung gezogen werden.“

www.osac.gov

Fotos: Alltag in Rocinha: Die Polizeipräsenz soll noch erhöht werden; Malerische Lage der Favela: Filetgrundstücke in der Nähe der Nobelviertel

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