© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/13 / 30. August 2013

„Wir stehen am Beginn der Arbeit“
NSU: Der Abschlußbericht des Untersuchungsausschusses empfiehlt den Sicherheitsbehörden zahlreiche Reformen
Marcus Schmidt

Die Zahlen scheinen für sich zu sprechen. Auf 1.357 Seiten hat der Ende Januar 2012 einstimmig eingesetzte Untersuchungsausschuß des Bundestages zum „Nationalsozialistischen Untergrund“(NSU) zusammengefaßt, was er in den 19 Monaten seiner Tätigkeit herausgefunden hat. In dieser Zeit wurden von den Aussschußmitgliedern und ihren Mitarbeitern rund 12.000 Akten von Polizei und Verfassungsschutz im Zusammenhang mit der Uwe Mundlos, Uwe Böhnhartd und Beate Zschäpe zugerechneten Mordserie an neun türkischen und griechischen Gewerbetreibenden sowie einer Polizistin als Beweismittel gesichtet und ausgewertet. Zudem wurden 107 Zeugen und Sachverständige in zumeist öffentlichen Sitzungen oft bis in den späten Abend vernommen.

In der vergangenen Woche schließlich übergaben die Mitglieder des Gremiums um den Ausschußvorsitzenden Sebastian Edathy (SPD) rechtzeitig zum Ablauf der Legislaturperiode, mit der auch der Untersuchungsauftrag automatisch endet, ihre Ergebnisse an Bundestagspräsident Norbert Lammert. Das Urteil der Ausschußmitglieder ist für die Sicherheitsbehörden niederschmetternd. In dem Bericht werden zahlreiche Fehler und Versäumnisse von Polizei, Verfassungsschutz und Justiz bei den Ermittlungen zu der Verbrechensserie aufgelistet. „Es gab nicht den einen Fehler“, sagte CDU-Obmann Clemens Binninger bei der Vorstellung des Berichtes vor der Bundespressekonferenz. Die Fülle von Verfehlungen der Behörden habe sich durch ihre Verkettung fatal ausgewirkt.

Am Ende haben sich die Mitglieder des Ausschusses auf 47 Empfehlungen für eine Reihe von „Korrekturen und Reformen“ bei den Sicherheitsbehörden geeinigt. Diese richten sich an die Polizei, die Justiz und den Verfassungsschutz und sollen verhindern, daß künftig eine fast 14 Jahre dauernde Verbrechensserie aus Morden, Sprengstoffanschlägen und Banküberfällen, wie die, für die der NSU verantwortlich gemacht wird, von den Sicherheitsbehörden unerkannt bleibt.

Gerade bei der Polizei geht es dabei auch um die personelle Zusammensetzung. „Ein Beamter mit türkischen Großeltern hätte vielleicht anders ermittelt“, sagte Edathy. Der Ausschuß wirft der Polizei vor, sie habe nur unzureichend ermittelt, ob es sich bei der Mordserie um rassistisch motivierte Taten gehandelt haben könnte. Um so einen Fehler künftig auszuschließen, reiche es nicht, die Beamten entsprechend zu sensibilisieren. Die Vielfältigkeit der Gesellschaft müsse sich in den Polizeibehörden widerspiegeln. „Die Bemühungen, junge Menschen unterschiedlicher Herkunft für den Polizeiberuf zu gewinnen, müssen intensiviert werden“, heißt es im Bericht.

Ein weiterer Punkt ist die Verbesserung der Zusammenarbeit der immerhin 36 deutschen Sicherheitsbehörden. Bei den Ermittlungen zum NSU sei die föderale Sicherheitsarchitektur an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gekommen, faßt Binninger das Problem zusammen. So sei es nie gelungen, die zumeist in Sachsen und Thüringen von zwei Männern mit Faustfeuerwaffen begangenen Banküberfälle mit den überwiegend in den westlichen Bundesländern durch zwei Täter begangenen Morden zusammenzuführen. „Verbrecher dürfen die Gefahr einer Entdeckung künftig nicht mehr dadurch minimieren, daß sie in ein anderes Bundesland wechseln“, brachte es der Obmann der Grünen, Wolfgang Wieland, auf den Punkt. Als Ausweg schlägt der Abschlußbericht daher vor, die Rolle des Bundeskriminalamtes zu stärken oder bei länderübergreifenden Verbrechensserien eine Länderpolizei mit Weisungsrecht gegenüber anderen Behörden auszustatten.

Obwohl der Bericht vom Untersuchungsausschuß einstimmig beschlossen wurde, gibt es vor allem bei den Themen Verfassungsschutz und V-Leute tiefgreifende Differenzen. Rückblickend kommt der Ausschuß zu dem Ergebnis, daß der Inlandsgeheimdienst teilweise relevante Informationen, die zur Aufklärung der Mordserie hätten führen können, nicht an die Polizei weitergegeben habe. Der Abschlußbericht schlägt daher unter anderem vor, Informationen der 17 Verfassungsschutzämter künftig zentral zusammenzuführen.

Geht es indes nach dem Willen der Linkspartei, ist eine solche Regelung überflüssig. In einem Sondervotum zum Ausschußbericht fordert sie die Auflösung der Geheimdienste. Deren Arbeit soll stattdessen in die Zivilgesellschaft ausgelagert werden. Zumindest mit diesem Wunsch steht die Linke nicht alleine. Die SPD etwa, die wie die Grünen und die FDP ebenfalls ein Sondervotum vorgelegt hat, fordert darin eine dauerhafte und verläßliche Finanzierung von entsprechenden Programmen im „Kampf gegen Rechtsextremismus“. Die Gründung einer entsprechenden Bundesstiftung dürfte daher den nächsten Bundestag beschäftigen.

Eine Frage glauben die Mitglieder des Ausschusses mit ihrer Arbeit beantwortet zu haben. Es habe sich kein Hinweis darauf gefunden, daß staatliche Stellen an der Mordserie beteiligt waren oder etwa eine schützende Hand über Mundlos, Böhnhartd und Zschäpe gehalten haben. „Es wäre für uns einfacher gewesen, wenn jemand das Trio gedeckt hätte, dann hätten wir einen Verantwortlichen“, sagte SPD-Obfrau Eva Högl.

Sind damit nun wirklich alle Fragen zum NSU beantwortet? Nicht nur die FDP, die in ihrem Sondervotum eine Reihe von ungeklärten Fragen auflistet, verneint dies. Edathy machte vielmehr deutlich, daß es nicht Aufgabe des Ausschusses war, selbst zu ermitteln. Die Abgeordneten mußten stattdessen das Handeln der Behörden „auf ihre Plausibilität überprüfen“. Die Frage, wer letztendlich für die Morde verantwortlich ist, müsse das Landgericht in München im Prozeß gegen Zschäpe klären.

Am 2. September wird der Bundestag über den Abschlußbericht debattieren. Und dann? „Wir stehen am Beginn der Arbeit“, sagte Binninger. Erst in der kommenden Legislaturperiode wird sich erweisen, ob die Handlungsempfehlungen des Ausschusses in den Sicherheitsbehörden tatsächlich umgesetzt werden, oder ob auch bei den 1.357 Seiten des Berichts gilt: Papier ist geduldig.

Foto: Sebastian Edathy übergibt den Abschlußbericht an Norbert Lammert: Einige Fragen bleiben

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