© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/13 / 30. August 2013

Kassandrarufe aus Harvard
Der Historiker Niall Ferguson skizziert den gegenwärtigen Absturz des Westens
Felix Dirsch

Niall Ferguson, der an etlichen hochkarätigen Geschichtsinstituten lehrt, ist noch keine fünfzig, hat aber schon diverse aufsehenerregende Studien veröffentlicht, darunter eine, die die Hauptschuld Deutschlands am Ausbruch des Ersten Weltkrieges kritisch hinterfragt. Überholten Debatten um den „Sonderweg Deutschlands“ (Hans-Ulrich Wehler, Thomas Nipperdey oder Heinrich August Winkler) im 19. und 20. Jahrhundert kann er nichts abgewinnen.

Eines von Fergusons Arbeitsgebieten ist die Entwicklung und Zukunft der westlichen Welt. Seine neueste Abhandlung reiht sich ein in die zunehmende Zahl derjenigen, die diese prosperierende Weltregion im Abstieg begriffen sehen. Öfter wird ein solcher kaum zu übersehender Trend mit dem parallelen Aufstieg der „anderen“ begründet. Gemeint sind vor allem die Staaten China, Indien und Brasilien.

Ferguson geht aber nur am Rande auf die merkliche Verringerung des Abstandes zwischen den USA und beispielsweise China ein. Wahrscheinlich interessiert ihn der globale Wettbewerb deshalb weniger, weil er wohl weiß, daß die unaufhaltsame Verlagerung der ökonomischen Epizentren mit vielen Schwierigkeiten für die Länder verbunden ist, die als neue Superstars gehandelt werden. Jeder weiß um die Umweltprobleme und sozialen Disparitäten in China und Indien. Besonders offenkundig wurden soziale Spannungen durch die Massenproteste in Brasilien.

Ferguson beschäftigt sich vornehmlich mit maßgeblichen Tendenzen innerhalb der – freilich sehr heterogenen – westlichen Welt. Ein Schwerpunkt der Betrachtungen liegt auf der anglo-amerikanischen Welt. Der mehrfach preisgekrönte Buchautor verweist auf den Niedergang institutioneller Gefüge, die die Vereinigten Staaten einst groß gemacht haben. Die Bedeutung der sogenannten Zivilgesellschaft ist im Zuge einer überall feststellbaren Individualisierung zurückgegangen, was nicht nur durch die rasante Zunahme der sozialen Netzwerke im Internet zu erklären ist. Der „Verfall des Sozialkapitals“ ist für ihn besorgniserregend. Dazu zählt der Rückgang der freiwilligen sozialen Dienste, aber auch die Verringerung der Spendenaktivitäten für wohltätige Zwecke. Nicht zuletzt die Schwächung des Bildungswesens, etwa durch die zunehmende Benachteiligung der Privatschulen, beklagt er. Zudem kritisiert er die geringen Zukunftsaussichten der jüngeren Generation aufgrund der hohen Staatsverschuldung.

Ferner erörtert Ferguson ausführlich den Aufstieg der westlichen Welt, der ab der frühen Neuzeit festzustellen ist. Er ist in seinem Kern mit der Ausbildung stabiler Einrichtungen wie dem Rechts- und Gerichtswesen zu begründen. Als Beispiel kann er die Relevanz der „Glorreichen Revolution“ von 1688 aufzeigen, die gerade bezüglich der Rechtssicherung wesentliche Konsequenzen zeitigte.

Während er Einbußen in der rechtsstaatlichen Verfaßtheit in etlichen westlichen Ländern konstatiert, bemühen sich in anderen Teilen der Welt manche Staaten erfolgreich um eine Verbesserung der entsprechenden Einrichtungen, darunter Entwicklungsländer wie Burkina Faso und Ghana. China hingegen macht diesbezüglich nur schleppende Fortschritte. Das ist ein weiteres Indiz dafür, daß der Weg in die internationale Spitze durchaus von hemmenden Faktoren begleitet wird. Sieht Ferguson in diesem Kontext doch einige Lichtblicke, sind seine Prognosen für die angelsächsische Welt eher düster.

Auch Fergusons neueste Schrift bestätigt seinen Ruf als ebenso erfrischender wie nonkonformistischer Autor. Überall wird seit Ausbruch der Finanzkrise die seit den frühen 1980er Jahren durchgesetzte Deregulierung für die Misere verantwortlich gemacht. Ein solches Urteil ist Ferguson zu pauschal, präsentiert er doch verschiedene Beispiele für die negativen Folgen falscher Regulierungsmechanismen. Weiter bezweifelt er den Erfolg mancher zu Antidota erklärten Maßnahmen, wozu er die gesetzliche Erhöhung der Eigenkapitalmenge gemäß „Basel III“ rechnet. Trotz mancher Überspitzungen ist Ferguson als Autor zum Gegenlesen, als Zertrümmerer landläufiger, aber kaum begründeter Meinungen hilfreich.

Das zeigt sich auch auf den letzten Seiten der Untersuchung. Der charismatische Guru aller Intellektuellen und Linksliberalen, besonders in Europa, der amtierende amerikanische Präsident, wird anhand einer repräsentativen Rede deutlicher Kritik unterzogen. Auf einer Wahlkampfveranstaltung 2012 in Virginia lobte Barack Obama die Leistungen der staatlichen Behörden Amerikas bei jedem wichtigen öffentlichen Projekt. Selbst bei der Einführung des Internets standen sie seiner Meinung nach Pate. Daß Obama damit indirekt dem Staatskapitalismus Chinas viel abgewinnen konnte, blieb vielen Zuhörern verborgen.

Ferguson fordert demgegenüber die Beachtung des amerikanischen Traums ein. Der einzelne Amerikaner soll fragen, was er für sein Land tun könne, nicht umgekehrt. Ferguson ist hier viel eher bei John F. Kennedy als bei dessen aktuellem Nachfolger. Dieser bevorzugt eher europäische Konzeptionen, hauptsächlich im Bereich des Sozialstaates, als traditionelle Vorstellungen des eigenen Landes. Es ist also unübersehbar, wer für den Verfasser den Niedergang seiner Wahlheimat personifiziert. Der Absturz trägt demnach einen Namen, und Ferguson ist so mutig, diesen in aller Deutlichkeit zu nennen.

Niall Ferguson: Der Niedergang des Westens. Wie Institutionen verfallen und Ökonomien sterben. Propyläen-Verlag, Berlin 2013, gebunden, 208 Seiten, 18 Euro

Foto: US-Präsident Barack Obama hilft 2011 in einer Washingtoner Sozialküche: Negative Folgen falscher Regulierungsmechanismen

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