© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/13 / 06. September 2013

Dumpfe Unzufriedenheit
Bundestagswahl: Auch im Fernsehduell zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück spielen die für Deutschland entscheidenden Themen keine Rolle
Thorsten Hinz

Das Temperament der Spitzenkandidaten trifft am verschlafenen Wahlkampf die geringste Schuld. SPD-Herausforderer Peer Steinbrück wenigstens hätte das Zeug zum scharfmäuligen Energiebündel gehabt. Anhänger und Gegner hatten ihm ursprünglich zugetraut, die Kanzlerin zur Entscheidung zu zwingen: entweder aus sich herauszugehen und Farbe zu bekennen oder sich als dumme Liese vom Kampfplatz zu stehlen. Er hatte das ebenfalls so gesehen und deswegen für sich „Beinfreiheit“ im Wahlkampf verlangt. Doch es kam – nicht nur im sogenannten Fernsehduell am vergangenen Sonntag – anders: Merkel blieb vage und blaß wie immer und wird als milde lächelnde Sonne über dem Land gefeiert, während Steinbrück, wenn er rhetorisch zuzulangen versucht, sich als ihr folgenloser Ankläffer täglich mehr entzaubert.

Auf den ersten Blick ist das erstaunlich, denn Merkels Politik bietet viele offene Flanken: Die Euro- und Staatsschulden-Krise, die Kosten für den deutschen Steuerzahler, die aufgegebenen „roten Linien“. Die Rußland-Politik ist auf die Homo- und Pussy-Riot-Frage geschrumpft, die unqualifizierte Zuwanderung schwillt erneut an. Die NSA-Spionage, die Verrücktheiten der Energiewende – politische Gründe, um Merkel zu stellen, gäbe es genug.

Doch spielen diese Themen entweder keine Rolle oder es zeigt sich, daß Steinbrück eine schlechte Alternative zur Kanzlerin darstellt. Das Publikum hat begriffen, daß es mit diesen Spitzenkandidaten gar keine echte Wahl hat. Und nicht nur das. Die Kandidaten vermitteln selber den Eindruck, daß sie in grundsätzlichen Fragen über keine Wahl- und Entscheidungsfreiheit verfügen. Nur bei sekundären Problemen wie der Kindergarten-Frage nimmt der Wahlkampf ein wenig Fahrt auf.

Drittrangig in ihrer Bedeutung sind die Unterschiede in den persönlichen Prägungen, Herkünften, Charakteren, Äußerlichkeiten der Kontrahenten. Politisch-weltanschauliche Differenzen zwischen Union und SPD gibt es ohnehin kaum noch. Von Belang ist etwas ganz anderes: Im Wahlkampf von Merkel und Steinbrück drückt sich die Entpolitisierung der deutschen Politik aus. Und weder die Kanzlerin noch ihr Herausforderer begehren gegen diesen Mißstand auf.

Viel wurde schon über Merkels Sprache gelästert. Vokabular und Syntax entstammten der DDR-Schule, die Sätze seien spannungslos, mechanisch und vermieden das Subjekt. In der Tat. Bei Honecker und Co. war das Subjekt zum „subjektiven Faktor“ herabgesunken, falls es nicht gänzlich von den „objektiven“, in der „wissenschaftlichen Weltanschauung“ des Marxismus-Leninismus begründeten „Notwendigkeiten“ verschluckt wurde. Merkels Synonym für „notwendig“ lautet „alternativlos“. Die geschichtsphilosophische Legitimation der SED hat sie durch die naturwissenschaftliche ersetzt. Die Anhänger Merkels erklären ihr Politikverständnis anhand physikalischer Gesetze. In ihrem Denken würden die „Kräfte (sich) überschneiden, einander den Überschuß an Energie wegnehmen, und das Resultat bildet sich sozusagen als Summe der Störungen“, schrieb kürzlich ein enthusiasmierter Autor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Nun, die SED-Führung verstand nicht viel vom Marxismus, zu dem essentiell das dialektische Bewegungsprinzip, die permanente Selbstkritik und -korrektur gehören. Genauso ist die naturwissenschaftliche Grundlage von Merkels Politik nur eine Fiktion, denn die empirischen Voraussetzungen, von denen sie ausgeht, sind oft falsch. Ihre „alternativlosen“, weil angeblich faktenbasierten Maßnahmen zur Euro-Rettung wurden im Juni 2013 durch ein veröffentlichtes Telefonat aus der Führungsetage der Anglo Irish Bank der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Banker hatten sich dazu beglückwünscht, das Zahlenmaterial manipuliert zu haben, und daß ihre Fälschung die Stützung der Bank durch europäisches Steuergeld notwendig und sinnvoll erscheinen ließ. Merkel war darauf hereingefallen und hatte nun allen Grund, sich bloßgestellt zu fühlen. In einem seltenen Augenblick verlor sie die Contenance, bekundete ihre „Verachtung“ und sprach von einer „richtigen Schädigung der Demokratie, der sozialen Marktwirtschaft“.

Sie ließ unkommentiert, daß die Finanzjongleure sich bei der Gelegenheit über die zahlungswilligen Deutschen und ihre moralische Erpreßbarkeit lustig gemacht hatten. Im Setzbaukasten der Sprachfertigteile, aus dem Merkel sich bedient, waren keine Worte dafür vorhanden. Bereits ein mildes Understatement hätte genügt, um dem heimischen Publikum zu signalisieren, daß sie die Kluft zwischen Fremd- und Eigeninteressen, zwischen national-egoistischen Motiven und europäisch-universalistischer Proklamation sehr wohl kennt und entsprechend handelt.

Merkels Verzicht darauf hängt zum einen damit zusammen, daß sie über keine nennenswerte historische und kulturelle Bildung verfügt, die sie gegen das selbstnegationistische Über-Ich der Bundesrepublik, das sich am liebsten in „Europa“ auflösen möchte, in Stellung bringen könnte. Zweitens spürt sie, daß es riskant für sie wäre, gegen die gültige internationale Ordnung zu wirken, in der Deutschland der Platz als historischer Sündenbock einerseits, als Zahlmeister andererseits zugewiesen ist. Diese Ordnung bildet den Rahmen ihres politischen Wirkens und Wollens. Seiner inneren Logik gehorcht sie. Das aber hat mehr mit Opportunismus, Mangel an politischer Phantasie und Entscheidungslosigkeit zu tun als mit naturwissenschaftlicher Folgerichtigkeit. Wer sich allerdings damit abgefunden hat, daß Deutschland kein politisches Subjekt mehr ist, sondern eine von außen bestimmte Verwaltungseinheit, dem erscheint auch eine Euro-Rettungspolitik als alternativlos, welche die Ersparnisse der eigenen Bevölkerung auffrißt. Statt um das politische Ob geht es nur noch um das verwaltungstechnische Wie. Der deutsche Demos stellt dann nur noch eine formale Größe dar.

An diesem Punkt hätte Steinbrück theoretisch einhaken und die Fernsehdiskussion spannend werden können. Aber Steinbrück, der nach „Ehrlichkeit“ in der Euro-Rettung ruft, nennt sowenig wie die Kanzlerin das Fehlkonstrukt der Gemeinschaftswährung beim Namen. Zu Recht stellt er fest, daß der Euro-Verbund zur Haftungs- und Transferunion geworden ist. Er meint das aber nicht als Skandal, der abgestellt werden muß, sondern verlangt, daß Deutschland den Rechtsbruch als verbindliche neue Rechtsgrundlage emphatisch akzeptiert. Wo Merkel Haken schlägt und zu verzögern und zu verschleiern versucht – am Ende vergeblich –, will Steinbrück das deutsche Steuergeld noch schneller und selbstverständlicher in die Fässer ohne Boden werfen. Diese Kandidaten-konstellation läßt sich auch auf andere Themenfelder, etwa die Asyl- und Ausländerpolitik, übertragen.

Erst recht läuft Steinbrücks Attacke in der NSA-Affäre ins Leere: Alle wissen, daß die Bespitzelung sich nicht durch die Kündigung oder den Abschluß von Verträgen beenden läßt und sie nicht auf das Versagen der amtierenden Bundesregierung zurückgeht. Sie gehört zur internationalen Nachkriegsarchitektur, die über die Wiedervereinigung hinaus Bestand hat. Doch eine Grundsatzdebatte darüber anzustoßen, wagt er genausowenig wie Merkel. Daher wird, was von ihm als Klartext gedacht ist, vom Publikum bloß als Rüpelei eines Unzuständigen und Gescheiterten wahrgenommen. Da weder die Kanzlerin noch der Herausforderer ein Problem darin sehen, daß ihnen die Politik-Kompetenz entzogen ist, sie politisch kastriert sind, beschränken sie ihre Auseinandersetzung auf Verwaltungsprobleme: auf Kindergartenplätze, das Betreuungsgeld, die PKW-Maut. Auf die Tautologie des Immergleichen.

Und der Demos, dessen Realeinkommen sinkt, während die Anzahl seiner flaschensammelnden Rentner steigt? Es herrschen dumpfe Unzufriedenheit, auch Erbitterung, aber es erwächst keine politische Leidenschaft daraus. Die Wähler haben sich mehrheitlich mit der Lage abgefunden und können sich eine Änderung gar nicht mehr vorstellen. Das hängt nicht zum wenigsten mit der sich ständig nach oben verbreiternden Alterspyramide zusammen. Der Kulturwissenschaftler Bazon Brock verglich die Deutschen „mit einer verwalteten Insassenschaft zwischen Jugendverwahrlosungsanstalt und Altersdemenzheim. (...) Da werden Mutti, Papi, Oma und die Kinder dazwischengesetzt, das Essen wird reingekarrt, schmeckt wie Pappe, aber das kümmert die Heimleitung nicht. Sind ja alle verpflegt.“

Wir fügen hinzu: Fast alle finden, daß Mutti Merkel als Heimleiterin gerade richtig ist. Der polternde Onkel Peer guckt zwischendurch mal rein und gibt den Pausenclown. Die Insassen kichern blöde. Ach ja, und wir wählen in zwei Wochen den neuen Bundestag.

Foto: Kanzlerin und Herausforderer während des Fernsehduells: Die Heimleiterin trifft auf den polternden Onkel

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