© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/13 / 06. September 2013

Europäische Integration und Rechtsstaat
Die EU wird übergriffig
Karl Albrecht Schachtschneider

Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“, lautet Artikel 23 Absatz 1, der „Europaartikel“ des Grundgesetzes. Er darf wegen der sogenannten Ewigkeitsklausel des Artikels 79 Absatz 3 GG nicht anders lauten, denn diese entzieht die Strukturprinzipien, die Identität der Verfassung der Deutschen, „unsere Werte“, der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers – und das heißt in der Praxis: der Politik der Parteienoligarchie. Es bedürfte eines neuen Verfassungsgesetzes durch das Volk, wenn Deutschland seine Souveränität aufgeben und sich als Gliedstaat in einen Bundesstaat Europa einbringen wollte, entschied das Bundesverfassungsgericht 2009 im Lissabon-Urteil. Das geht nicht ohne Volksabstimmung.

In ihrer gegenwärtigen Verfassung verletzt die EU alle genannten Grundsätze unserer Verfassung:

- Sie ist nicht demokratisch; denn sie verfaßt kein Volk, das sie legitimieren könnte, überschreitet aber die ohnehin überaus weiten Ermächtigungen. Die Unionsorgane sind nicht demokratisch legitimiert, auch das Europäische Parlament nicht, weil dessen Wahlmodus den elementaren Grundsatz der Egalität nicht einhält. Der Europäischen Zentralbank fehlt gänzlich die demokratische Legitimation, zumal für ihre ohnehin staatswidrige Finanzpolitik durch die Kreditierung von Staatsanleihen.

- Die Union ist nicht rechtsstaatlich, weil es ihr an Gewaltenteilung mangelt, der Rechtsschutz gegen ihre Maßnahmen unzureichend ist, die Verträge mißachtet werden und ihre Rechtsakte keine Legitimation haben. Der Europäische Gerichtshof wiederum ist mangels demokratischer Legitimation kein eigentliches Gericht, dem man die verbindliche Rechtsklärung für die vielen Völker Europas anvertrauen könnte.

- Die Union ist nicht sozial, weil ihre Wirtschafts- und Währungsordnung, insbesondere der radikal deregulierte Binnenmarkt und die Einheitswährung, den Unternehmen einer Vielzahl von Mitgliedstaaten die Wettbewerbsfähigkeit genommen und damit deren Völker in die Armut getrieben hat. Anderen Mitgliedstaaten, darunter auch und vor allem Deutschland, verschafft die unterbewertete Währung einen uneinholbaren Wettbewerbsvorteil, nämlich ein weltwirtschaftsrechtlich mehr als fragwürdiges Preisdumping. Freilich kommt dieser Vorteil der Bevölkerung der begünstigten Staaten nicht zugute, weil die Einheitswährung dieser die Sozialdividende der Aufwertung nimmt. Ganz abgesehen von der Zinslosigkeit des Sparens, den Renditeminderungen der Lebensversicherungen und anderes mehr.

Die unionsweite Destabilisierung der Wirtschaft schadet dem allgemeinen Wohlstand überall. Zum volkswirtschaftlichen „magischen Viereck“ gehört bekanntlich auch das außenwirtschaftliche Gleichgewicht, also der Zahlungsbilanzausgleich, der in der Union nicht besteht. Die Schieflage, die sich in den Schulden zeigt, versucht die Politik mit Rettungsmaßnahmen auszugleichen. Diese aber sind nicht nur vertragswidrig, sondern auch verfassungs-, ja staatswidrig. Eine Politik der Instabilität ist per se unsozial.

- Die Zentralisierungspolitik der Union widerspricht eindeutig föderativen Grundsätzen, allemal die zunehmende Entstaatlichung nicht nur der Mitgliedstaaten, aber auch und vor allem der Länder und Regionen. Den Grundsatz der Subsidiarität hat der Europäische Gerichtshof mittels der Implied-Powers-Doktrin und um des effet utile (Effizienzgebots) willen geradezu in das integrationistische Gegenteil verkehrt.

Die Unionspolitik zielt auf den allenfalls regionalisierten Einheitsstaat. Dem aber wird die föderale Gewaltenteilung der Vielheit der Staaten fehlen, die ein unverzichtbarer Schutz der Freiheit ist, auch durch die Chance des freien Zuges, notfalls der Flucht in die Freiheit. Im Großstaat läßt sich leichter eine Diktatur errichten als in vielen Kleinstaaten mit allseitigen Einflüssen.

Der Grundrechtsschutz ist ungenügend. Er schwächt sogar den Grundrechtsschutz hier in Deutschland, weil dieser gegen Rechtsakte der Union nicht nur nachrangig, sondern auf offenkundige Grundrechtsverletzungen zurückgenommen ist. Die Grundrechte, wie sie die Grundrechtecharta der EU von 2007 garantieren will, sind mehr als kläglich. Sie sind wenig bestimmt und unterliegen weitgehenden Einschränkungen im Unionsinteresse. Vor allem aber hat die Grundrechtever­antwortung der bürgerferne Europäische Gerichtshof. Es gibt nicht einmal eine Grundrechtsbeschwerde. Der Individualrechtsschutz ist auf engste Fälle individueller Betroffenheit begrenzt. Ein einziges Mal erst hat der Gerichtshof einen Unionsrechtsakt an Grundrechten scheitern lassen – in mehr als einem halben Jahrhundert (vermeintlicher) Grundrechtsverantwortung.

Die Praxis der Unionsorgane und der Mitgliedstaaten nimmt noch nicht einmal auf die Gründungsverträge Rücksicht, sondern diese handeln einzig im Interesse eines illegitimen und illegalen europäischen Großstaates. Wenn es um dieses Zieles willen erforderlich erscheint, ist offenbar jedes Mittel recht. Der Gerichtshof hat schon 1971 – entgegen dem Wortlaut und dem Sinn der Verträge – „aus der Natur der Sache“ der damaligen EWG die ausschließliche Befugnis zur Handelspolitik zugesprochen, und im Laufe der Jahre entgegen dem vertraglichen Bestimmungslandprinzip ein Herkunftslandprinzip aus den Grundfreiheiten hergeleitet, welches den Gesetzen der Mitgliedstaaten weitgehend die Wirkung nimmt. Danach gilt in den Mitgliedstaaten nicht nur die eigene Rechtsordnung, sondern auch die aller anderen Mitgliedstaaten; das betrifft vor allem den Lebensmittelbereich.

Der Rechtsstaat, dessen Prinzip die Rechtlichkeit staatlichen Handelns ist, also Gesetzlichkeit und Vertraglichkeit meint, ist im europäisierten Deutschland verlorengegangen. Wesentlicher Grund sind die Entscheidungsstrukturen der EU. Dort wird überwiegend mit Mehrheiten entschieden, welche einerseits von nationalen Interessen und andererseits von dem Unionsinteresse an Erweiterung und Vertiefung, ja an ihrem Bestand überhaupt, bestimmt sind. Zugleich setzt sich die EU den Einflüssen von Lobbyisten in unerträglich hohem Maße aus, seien diese nun legitim oder illegitim. Die Korruption grassiert. Wichtig sind die hochbezahlten Posten und damit die stetige Mehrung von Institutionen und Agenturen.

Der Entwicklung eines vereinten Europas sind vom Recht enge Grenzen gezogen. Deswegen liegt es in der Natur der großstaatlichen Zielsetzung der Integrationspolitik, daß diese die Verträge geflissentlich überschreitet und die Souveränität der Völker mißachtet. Das Ziel, das schon der Industrielle und Europa-Technokrat Jean Monnet (1888–1979) hatte, geben die eigentlichen Agenten eines Europas, das für die Neue Weltordnung paßfähig gemacht wird, nicht auf: das Ziel eines Europas von Arbeitern und Verbrauchern, beherrscht von einer Weltelite mit Macht und Reichtum. Krisen sind dafür ein geeigneter Weg. So wird propagiert, nur „mehr Europa“ könne die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise der Mitgliedstaaten bewältigen. Krisen begünstigen den Umsturz. Sie geben aber auch der Befreiung zum Recht eine Chance.

Die Erweiterung der EU findet ihre rechtliche Grenze im Europabegriff. Dessen Definition ist strittig, aber die Türkei gehört bloß wegen Ostthrakiens auf der Balkanhalbinsel nicht schon zu Europa, im übrigen auch kulturell nicht. Denn Europa ist trotz aller Gottvergessenheit christlich geprägt, vor allem aber aufklärerisch und damit säkularistisch, die Türkei aber zunehmend islamisch. Nebenbei: Auch der vorderasiatische Staat Israel, der Interesse an der Mitgliedschaft hat, gehört nicht zu Europa.

Die Vertiefung hat ihre Grenzen längst überschritten, allemal in der Euro-Zone, eigentlich schon durch den übermäßig deregulierten Binnenmarkt, der den schwächeren Volkswirtschaften den Schutz ihrer Wirtschaften nimmt, aber auch durch die integrationistische Judikatur des Europäischen Gerichtshofs und die stetig intensivierte Wirtschafts- und Währungsunion, die nun zur Sozialunion entwickelt wird.

Das Unmaß der Integration ruft indes auch eine gegenläufige Entwicklung hervor: Die Ermüdung der Integrationsbereitschaft der Völker zeigt sich im Erfolg von europakritischen Parteien und mehr noch auf den Straßen der Südländer, auf denen Wut und Widerstand gegen das Wirtschaftsunrecht der EU zum Ausdruck kommen.

Das Fazit und unser Beruf: Das vereinte Europa kann nur als Gemeinschaft des Rechts und der wirtschaftlichen Vernunft erfolgreich sein. Es muß seine Eigenart, die Vielheit der Völker, wahren. Die Völker müssen ihre Souveränität behaupten; denn die Souveränität ist die Freiheit der Bürger. Im Großstaat geht die Freiheit verloren. Viele geschichtliche Beispiele erweisen das. Der Großstaat kann nicht demokratisch, nicht rechtsstaatlich und nicht sozial sein. Die föderale Gewaltenteilung ist wichtiger als die ohnehin in den Parteienstaaten kaum wirksame horizontale Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative. Es sind genau diese „Werte“, die, obgleich stetig beschworen, die Herrschaft und das Geschäft der politischen und finanziellen Klasse stören.

Die Pflicht der Bürger ist es, ein europäisches Europa, eine Republik der Republiken, aufzubauen. Nur ein solches Europa vermag die Freiheit zu gewährleisten. Entgegen der andauernden Freihandelspropaganda gibt auch nur ein Europa der Nationen, in praktischer Vernunft zur Rechtsgemeinschaft vereint, die Chance auf allseitigen Wohlstand der Völker, mögen darunter auch die Geschäfte der Hochfinanz leiden. Schon Kant hat in seinem „Ewigen Frieden“ den „Föderalismus freier Staaten“ als erfolgversprechendes Friedensmodell vorgeschlagen. Er setzt voraus und sichert zugleich die Republikanität der Völker, die Freiheit der Bürger in Staaten des Rechts.

 

Prof. Dr. iur. Karl Albrecht Schachtschneider, Jahrgang 1940, ist Ordinarius emeritus für Öffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er klagt zusammen mit Volkswirten erneut gegen die Politik der Euro-Rettung.

Nach Einschätzung vieler steckt die europäische Staatengemeinschaft in einer tiefen Legitimationskrise.

Zeit für eine Bestandsaufnahme. Wo steht unser Kontinent politisch, wirtschaftlich, militärisch, kulturell?

Gibt es Perspektiven für ein einiges

Miteinander selbstbestimmter Völker jenseits des ungeliebten Brüsseler Zentralismus? In ihrer gegenwärtigen Einrichtung verletze die Europäische Union wesentliche Grundsätze unserer Verfassung, meint der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider.

Foto: Unterwerfung: Das Grundgesetz unterliegt weitgehenden Einschränkungen durch die Europäische Union

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