© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/13 / 13. September 2013

Jürgen Borchert. Deutschlands engagiertester Sozialrichter kämpft unverdrossen
Kundig und kantig
Jürgen Liminski

Jürgen Borchert ist ein Mann des Rechts. Das kann man nicht von vielen sagen, die sich mit den deutschen Sozialsystemen befassen. Doch der Vorsitzende Richter am 6. Senat des Hessischen Landessozialgerichts spricht nicht nur Recht, er kämpft auch darum. Mehrere Urteile des Bundesverfassungsgerichts gehen auf seinen scharfen Verstand und kenntnisreichen juristischen Beistand zurück und es gibt vermutlich keinen Richter in Deutschland, der von den Parteien gleichzeitig so gehaßt, gefürchtet und bewundert wird.

Borchert kennt sich aus in den kleinsten Verästelungen der Sozialsysteme, dennoch hat er in seiner jahrzehntelangen Arbeit für mehr Gerechtigkeit für die Familie nie den Überblick verloren. Von seinem Lehrer Oswald von Nell-Breuning, dem Grandseigneur der katholischen Soziallehre, stammt die Bemerkung, ein Ziel der deutschen Sozialpolitiker sei, mit ihren Gesetzen und Reden die Leute so zu verwirren, daß sie nicht merken, wie der Wohlfahrtsstaat mit Gesten der Großzügigkeit ihnen die Taschen leert und niemand auf die Idee kommt, die zulangenden Hände gehörten den Sozialpolitikern.

Borchert hat sich nicht verwirren lassen. Seine Bücher legen davon Zeugnis ab, sei es der Geheimtip in Sachen Altersvorsorge „Renten vor dem Absturz“ oder nun sein eben bei Random House erschienener Warnruf mit dem Titel „Sozialstaatsdämmerung“. Lange bevor das politisch-mediale Establishment der dräuenden Gefahren des demographischen Niedergangs gewahr wurde, hatte Borchert die Folgen im Blick. Er wies unaufhörlich darauf hin, daß die Umlageverfahren bei Renten, Krankenkassen und Pflege einen strukturellen Geburtsfehler haben: Sie ignorieren die Erziehungsleistung, den „generativen Beitrag“ der Eltern zur Bestandserhaltung der Systeme, wie Karlsruhe in seinem Beitragskinderurteil von 2001 feststellte, bei dem er als Sachverständiger geladen war. Die Politik berücksichtigte die Forderung bei der Pflege, nicht bei Rente und Krankenkassen. Aber das Urteil gilt für alle Umlagesysteme. So kämpft Borchert weiter gegen die „Transferausbeutung der Familie“, gegen die „Umverteilung von unten nach oben, von Jung zu Alt und von Familien zu Kinderlosen“.

Der promovierte Volljurist glaubt an die Kraft des Rechts, aber er ist kein Michael Kohlhaas. Er weiß, daß man auch mit der Politik reden muß, und das tut er ausgiebig. Alle Parteien haben ihn befragt und er hat sie alle beraten. Bei einigen sind seine messerscharfen Analysen in den aktuellen Wahlprogrammen zu entdecken. 2002 arbeitete er für den damaligen Ministerpräsidenten von Hessen Roland Koch ein familienpolitisches Konzept aus. Immer wieder findet er originelle und treffende Formulierungen in seinen zahllosen Aufsätzen und Interviews. Nun ist der gebürtige Hesse 64 Jahre alt – jung genug, um weiter an den dicken Brettern vor der Stirn unserer Sozialpolitiker zu bohren.

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