© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/13 / 13. September 2013

Die bröckelnde Mitte
Frankreich: Sozialistische Ideologie und die Euro-Politik gefährden das demokratische Miteinander / Mittelschicht im Abwärtstrend
Jürgen Liminski

Zur Staatsräson moderner Gemeinwesen gehört die soziale Sicherheit. Eine alte Weisheit, die zur theoretischen Grundlegung staatlicher Souveränität zählt. Einer der ersten denkerischen Begründer der abendländischen Rechts- und Staatsphilosophie, Jean Bodin, schrieb in seinem Hauptwerk vor rund 450 Jahren, der Zweck des Staates sei, „in erster Linie die Sicherung der schlichten sozialen Existenz, die Sicherung von Leib, Leben, Freiheit und Eigentum also“.

Der Staat solle nicht nur das Gegenmodell zur Räuberhöhle sein, sondern die „Voraussetzung einer glückseligen Existenz“ sichern. Es muß nicht gleich das Paradies auf Erden sein, aber wer die Sozialstaatsdebatten in Europa verfolgt, der wird sich gelegentlich fragen, ob diese einfachen Prioritäten heute noch gelten oder ob wir nicht doch in einer Art supranationaler Räuberhöhle leben.

Ein aktuelles Beispiel bietet die Diskussion um die Rentenreform in Frankreich. Als groß und strukturell kompakt von der Regierung François Hollande angekündigt, ist sie nach den ersten Drohungen von Linksaußen rasch zur „Reformette“, zur Mini-Reform mutiert.

Frankreich leistet sich das teuerste Sozialsystem nicht nur Europas, sondern auch aller OECD-Länder. Seine Arbeitnehmer gehen früher in Rente, zum Teil mit 55 Jahren, und auch die Sozialhilfe sucht mit ihren vielen Optionen ihresgleichen. Von der Arbeitslosenhilfe ganz zu schweigen. Die Renten-Reformette verläuft nach dem üblichen Muster: Erhöhung der Beiträge jetzt und Verlängerung der Lebensarbeitszeit später, viel später, nämlich erst ab 2020 und dann auch nur in homöopathischen Dosen von 41,5 auf 43 Jahre im Jahr 2035. Bis dahin wird das durchschnittliche Lebensalter doppelt so schnell gestiegen sein von heute rund 79 auf vermutlich 85 Jahre.

Finanziert wird das System durch hohe Steuern und Abgaben. Die Sozialisten haben die Last noch erhöht und die Staatsquote mittlerweile auf 57 Prozent getrieben, in Deutschland sind es 45 Prozent. Auf 1.000 Einwohner kommen 90 Angestellte des öffentlichen Dienstes (jeder fünfte Arbeitnehmer), in Deutschland sind es 50. Um Arbeitslosigkeit abzubauen, vor allem bei der Jugend, werden 60.000 Stellen im öffentlichen Dienst geschaffen, in Deutschland wird ein Lehrstellenangebot unterbreitet.

Auch die Lohnstückkosten in Frankreich sind erdrückend. Sie sind seit der Einführung des Euro um rund 27 Prozent gestiegen (in Deutschland um 6 Prozent), und die Löhne tragen daran einen großen Anteil. Diese sind im selben Zeitraum um knapp 42 Prozent gestiegen (Deutschland 19 Prozent) und liegen damit weit über dem Durchschnitt in der Eurozone (28 Prozent).

Zugleich sank die Besteuerung von Unternehmensgewinnen im EU-Durchschnitt um elf Prozentpunkte, in Frankreich dagegen nur um fünf Punkte. Weniger Gewinne bedeuten weniger Investitionen. Weniger Investitionen aber bedeuten auch weniger Innovation. Das sind einfache Marktgesetze, die man mit Subventionen zwar aushebeln kann. Aber dadurch steigende Staatsschulden machen die strukturellen Schwächen bei der Wettbewerbsfähigkeit nicht wett. Es gibt eigentlich keine andere nachhaltige Lösung, als die Lohnnebenkosten zu senken. Nur: Eine Senkung und selbst Stagnation der Löhne würde die Gewerkschaften auf die Straße treiben.

In Frankreich sind die Gewerkschaften ideologisch ausgerichtet, am stärksten ist die kommunistische Gewerkschaft CGT. Ihr neuer Chef, Thierry Lepaon, gilt zwar als realistischer Funktionär, der die ökonomischen Zusammenhänge von Wettbewerb und Kostendruck in den Betrieben nicht rundweg verneint. Aber seine Prioritäten liegen anders. Als bekennender Kommunist und Marxist kämpft er für die Arbeiterklasse, und gegen die CGT sind grundlegende Reformen in Frankreich kaum durchzusetzen. Dabei ist der Organisationsgrad der Gewerkschaften gering. Keine zehn Prozent der französischen Arbeitnehmer gehören einer Gewerkschaft an.

Aber die fünf „Syndicats“ (CGT, CFDT, FO, CGC und CFTC) sind linksorientiert und haben seit 1966 ein monopolartiges Vertretungsrecht auf nationaler Ebene. Sie sind streikerprobt und wenn sie sich mit Schülern und Studenten zusammentun, ist für jede Regierung Gefahr im Verzug. Sie achten peinlich genau darauf, daß die sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte wie die 35-Stunden-Woche oder der hohe Kündigungsschutz oder die stete Steigerung des Mindestlohns (im Moment liegt er bei 9,40 Euro pro Stunde) nicht angetastet werden.

Solch Politik führt zu einer Deindustrialisierung, die Arbeitsplätze kostet. In den letzten dreißig Jahren sind mehr als zwei Millionen Arbeitsplätze in der Industrie verlorengegangen, der Anteil der Industrie am BSP liegt bei 13 Prozent, in Deutschland sind es 26 und selbst in Italien noch 18 Prozent.

Trotz der steigenden Defizite in Staats- und Sozialhaushalten bleiben die Erwartungen an den Staat immens und führen eben zu dem ausufernden Staatsapparat und einem Sozialsystem, das in solchen Zeiten nicht mehr zu finanzieren ist.

8,6 Millionen Franzosen gelten als arm, die Sozialhilfe wird weiter aufgestockt. Die Regierung folgt einem Gesellschaftsmodell, das global nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Das hat politische Folgen. Immer mehr Familien rutschen ins Prekariat, die Mittelschicht schmilzt.

Nach einer Studie, die die eher links orientierte Stiftung Jean-Jaurès – vergleichbar der Friedrich-Ebert-Stiftung – mit Hilfe des größten Demoskopie-Instituts Ifop durchgeführt und kürzlich veröffentlicht hat, ist die Zahl der mittelständischen Franzosen, die etwas auf die hohe Kante legen konnten, innerhalb von drei Jahren um sechs bis neun Prozentpunkte gesunken (siehe Grafik).

Frankreichs Mittelschicht ächzt unter der wachsenden Steuerlast. Das Gefühl breitet sich aus, den Staat und seine Apparate zu finanzieren, ohne selber davon zu profitieren. Dieses Gefühl ist gefährlich. Es verstärkt das Mißtrauen gegen „die da oben“, es reizt die Neidstimmung gegen die Reichen und die Politiker, es schmälert den Gemeinsinn und das Empfinden für Solidarität, es sucht Schuldige in der Politik, in der Globalisierung, in der Zuwanderung in die Sozialsysteme.

All das mischt sich zu einem explosiven Gebräu, das sich im Herbst oder Frühjahr entladen kann. Wenn die politische Klasse Glück hat, findet der Ärger seinen Niederschlag nur in der Wahlurne im März (landesweite Kommunalwahlen) oder Mai (Europawahl). Wenn sie Pech hat, entlädt er sich auf der Straße und in den Banlieues. Sicher ist, daß die sozialistische Politik der Mittelschicht hart zusetzt – und damit mittelfristig die Demokratie schwächt.

Steigende Sozialausgaben sind eine Hauptursache der Euro-Krise. Sie wurden durch niedrige Zinsen stimuliert. Bezeichnenderweise sind die Rentenausgaben in den „Rettungsschirmländern“ in Irland, Griechenland und Portugal, zwischen 2000 und 2010 (prozentual zum BIP) sprunghaft gestiegen, während sie in Deutschland – trotz Alterung – zurückgingen. Während die Sozialausgaben 2012 in Deutschland etwa 26 Prozent, in Österreich 28 und in Finnland 29 Prozent des BIP betrugen, beanspruchten sie in Frankreich fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts.

Im Vergleich zu 2005 sind die Sozialausgaben fast überall in der Eurozone deutlich gestiegen, allein in Deutschland sind sie leicht gesunken. Wenn die Reform- und Sparpolitik in Euroland scheitert, dann gibt es eine Transferunion. Das bedeutet einerseits unvorstellbare Kosten für Deutschland und andererseits, daß immer größere Teile Europas zu einem am Transfertropf hängenden „Mezzogiorno“ werden.

Die Statik des gesellschaftlichen Miteinanders droht aus den Fugen zu geraten. Das Prekariat wächst, die Mittelschicht schmilzt. Mittelschichten sind das Fundament freiheitlicher Demokratien. Dieses Fundament wird derzeit geflutet. Nicht nur in Frankreich, auch in Deutschland. Vor zehn Jahren gehörten noch gut 62 Prozent der Bevölkerung der Mittelschicht an, heute sind es nur noch 52 Prozent, Tendenz fallend. Zur Mittelschicht zählen alle, die 70 bis 150 Prozent des Durchschnittseinkommens von 25.000 Euro netto verdienen.

Die zwei wichtigsten Institute einer freien Gesellschaft sind, meinte der liberale Ökonom Friedrich August von Hayek, „das private Eigentum und die Familie“. Beide Institute stehen unter Druck. In Deutschland, in Frankreich und auch in der Eurozone.

Jean-Jaurès-Institut: Das „große Unbehagen“ der Mittelschicht

Foto: Frankreichs Bürgertum geht auf die Barrikaden: Der Protest gegen Hollandes Homo-Ehe-Politik ist nur eine Seite der Medaille

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