© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/13 / 13. September 2013

Emotionale Sichtweisen
Blau ist weiblich, Gelb männlich: Eine Ausstellung in Berlin zeigt die Schwedin Hilma af Klint als Pionierin der abstrakten Malerei
Fabian Schmidt-Ahmad

Lange Zeit kannten nur enge Freunde das geheime Werk der schwedischen Malerin Hilma af Klint (1862–1944), die zu Lebzeiten öffentlich lediglich als Schöpferin hochwertiger, naturalistischer Bilder in Erscheinung trat. Testamentarisch hatte sie verfügt, daß ihre Arbeiten frühestens zwanzig Jahre nach ihrem Tod gezeigt werden dürften. Bekannt wurde sie daher erst 1986 mit der Ausstellung „The Spiritual in Art. Abstract Painting 1890–1985“ in Los Angeles. Warum ihre damals gezeigten Bilder zu Recht eine kunstgeschichtliche Sensation auslösten, davon kann man sich in der ersten umfassenden Gesamtschau überzeugen, die nach Stockholm nun im Berliner Museum für Gegenwart, dem Hamburger Bahnhof, ausgestellt wird.

Der Ausstellungstitel: „Hilma af Klint. Eine Pionierin der Abstraktion“ bringt es auf den Punkt. Lange bevor Künstler wie Wassily Kandinsky, Piet Mondrian, Kasimir Malewitsch oder Frantisek Kupka die abstrakte Malweise entwickelten, beginnt sich bereits bei Klint die gegenständliche Welt aufzulösen. Bilder von verblüffender Modernität entstehen so, die sich durch Klints präzise Aufzeichnungen auch psychologisch erschließen lassen und so im nachhinein ein Licht nicht nur auf ihr eigenes Werk, sondern auf eine ganze Kunstepoche werfen.

Zwar kam 1912 Kandinskys Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ heraus, die als grundlegendes Programm der Abstrakten gilt. Doch auch Umberto Boccionis für viele seiner Zeitgenossen aufgestellte Forderung: „Nicht das Sichtbare muß gemalt werden, sondern das, was bislang als unsichtbar galt, das nämlich, was der hellsichtige Maler sieht“, läßt einen über die Triebfeder dieser Kunstrichtung im Unklaren. Bei der akademisch ausgebildeten Malerin – zu ihrer Zeit etwas Außergewöhnliches – wird dieses Verborgene offenbar.

Klint teilte, wie viele andere ihrer Zeit, das Interesse an Okkultismus und Séancen. Die Künstlerin begann in einer Gruppe von fünf Frauen mit dem Schreiben und Zeichnen in medialer Trance. Über 125 Notizbücher mit Aufzeichnungen und Skizzen legen Zeugnis ab über ihre akribische Arbeitsweise und ihre Entwicklungsphasen. Um rationales Wissen, um Erklärungen, Erkenntnis bemüht, verband sie sich erst mit der Theosophischen Gesellschaft, später, nach Begegnungen mit Rudolf Steiner, wandte sie sich seiner christlich geprägten Anthroposophie zu.

Unter Steiners Einfluß veränderte Klint ihre Arbeitsweise in die schauende, aber freie und bewußte Gestaltung ihrer Bilder. Das damalige rege Interesse an Farbtheorien glaubt man auch bei ihr zu bemerken, jedoch bekommen ihre Gestaltungen den Charakter von komprimierten Bedeutungsträgern. Intensive Aussagemöglichkeiten und hohe Emotionalität prägen ihre häufig großformatigen Werke bei allem kultivierten Farbeinsatz. Weiß zum Beispiel ist die heiligste Farbe, Blau die Farbskala der kräftigen und wahren Natur, außerdem das Weibliche, Gelb die „herrliche Farbe des Lichts, der Hintergründe des Wissens“, das Männliche.

Auch wenn sich Klint mit den Rosenkreuzern, dem Parzival-Thema, der christlichen Esoterik überhaupt auseinandersetzte, nie sind ihre Werke Illustration, sondern original vermittelte Sichtweisen zum jeweiligen Thema. Zum Symbolgehalt ihrer Arbeiten erstellte sie ein Verzeichnis – ein Versuch, Sprachformen weiterzureichen. Doch noch vor jedem Symbolismus ist es zuerst die intensive Kraft der Farben, die äußerst gekonnt, manchmal durch winzige Linien oder Gegeneinandersetzen gesteigert werden, die dem Besucher in der sehr gut aufbereiteten Ausstellung entgegentritt – und überwältigt. Gesättigt vom genußvollen Schauen der Farben und Formen verläßt man die Ausstellung.

Die Ausstellung „Hilma af Klint. Eine Pionierin der Abstraktion“ ist bis zum 6. Oktober im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Invalidenstraße 50-51, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr, zu sehen. Telefon: 030 / 39 78 34 11

www.hamburgerbahnhof.de

Foto: Hilma af Klint, Altarbild Nr. 1, Gruppe X, Öl, Tempera und Gold auf Leinwand, 1915: Die drei Altarbilder bilden den Höhepunkt der Ausstellung. Das einzelne Ich des Menschen – in der Mitte der Pyramide dargestellt – steigt durch männlich-weibliche Verkörperungen schrittweise empor. In der Spitze der Pyramide kommt es zum Durchbruch der Geistessonne: Männlich-Weibliches wird zu Strahlen der Erkenntnis.

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