© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/13 / 13. September 2013

Der Flaneur
Zu schnell für die Kanzlerin
Paul Leonhard

Der Kleine ist eingeschnappt. Vom Rücksitz des Autos hat er die Kanzlerin wieder nicht gesehen. Sein Pech war, daß die Ampeln auf grün standen. Nun mault er, daß ich ihn absichtlich zu spät auf das riesige Plakat aufmerksam gemacht habe. Wir stehen inzwischen an einer roten Ampel, nahe der ebenfalls ein Großplakat aufgestellt wurde. Weiß ist es, mit kleiner schwarzer Schrift und einer aus einem großen Wort bestehenden Frage: Revolution? Daneben teilt Jürgen Trittin mit, daß er hier ist. Erschreckt merke ich auf. Der Termin war schon. Und ganz oben an einer Laterne neben der Ampel verspricht ein Rechtssozialist, nicht zu reden, sondern sich zu kümmern.

So bunt und doch inhaltsleer wie im Wahlkampf ist Deutschland selten. Vor mir liegt eine schnurgerade Straße, vier Kilometer nur von einer einzigen Ampel unterbrochen. Eine der wenigen Strecken in der Großstadt, die man zügig fahren kann. Daß ausgerechnet diese für den Wahlkampf genutzt wird, verstehe ich nicht. Eigentlich nimmt hier nur das Unterbewußtsein die vorbeihuschenden Plakate wahr, und doch hängen an nahezu jedem Baum bis zu vier Stück übereinander.

Die Linkssozialisten haben ihre unbezahlbaren sozialen Forderungen platziert. „Vater, Vater, Kind“ heißt der neue Zählreim der Piraten. Die Liberalen werben mit Köpfen und Namen von Menschen, die mir vollkommen unbekannt sind. Und ausgerechnet die Partei, die ich vielleicht für wählbar hielt, hält unverdrossen an einer Person fest, die ich persönlich kenne und ihr keineswegs mein Kreuzchen geben werde.

Gut für unsere Stadt, XY in Berlin, haben sich die Werbeprofis als Spruch für diese Lusche ausgedacht. Ich lächle. Schön doppeldeutig. Dann merke ich im letzten Moment, daß da wieder ein Großplakat der Kanzlerin gestanden hatte. „O Mann, Papa“, lautet die Reaktion von hinten. Erneut war es zu schnell für den Kleinen. Aber am Ende der Straße wende ich auf die Gegenspur und drehe mich halb zu meinem Sohn um: „So, jetzt zeige ich dir das Plakat.“ Schließlich soll die Kanzlerin in seinen Augen kein unerfüllbarer Traum werden.

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