© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/13 / 20. September 2013

Porno statt Plato
Ein Begleitprogramm an deutschen Hochschulen zum Abbau des Menschlichen hat ungebremste Konjunktur: die „Gender Studies“
Günter Haensch

Im September 1963 erschien in den Lutherischen Monatsheften ein Aufsatz, der die vorgeblich kulturpolitische Rückständigkeit der protestantischen Kirche in der Bonner Republik aufs Korn nahm. Wenn auch scharf im Ton, wäre der Text wenig beachtet worden, hätte er nicht Giselher Wirsings Aufmerksamkeit erregt. Wirsing, Chefredakteur der konservativen Wochenzeitung Christ und Welt, der vor 1933 im „Tat-Kreis“ gelernt hatte, wie man Meinung macht, erkannte im Abenddämmer der Adenauer-Ära einen kulturpolitischen Reformstau.

Er beauftragte daher den Kirchenkritiker Georg Picht, der in Hinterzarten eine Internatsschule leitete, sein Anliegen grundsätzlicher zu formulieren. Anfang 1964 erschien dann dessen Artikelserie in Christ und Welt über „Die deutsche Bildungskatastrophe“. Diese Philippika hat „in der publizistischen Geschichte der Bundesrepublik ihresgleichen nicht oft gesehen“ (Ulrich Raulff) – eigentlich nie.

Der Altphilologe und Platon-Verehrer Picht, zur Enkel-Generation des George-Kreises zählend und sich nach 1945 als „Hüter der Flamme“ des „Geheimen Deutschland“ fühlend, ließ Georges Widerwillen gegen das Massenzeitalter („Schon eure Zahl ist Frevel“) gelassen hinter sich und trat nicht für eine Erneuerung des humanistischen Gymnasiums ein, sondern forderte die totale Mobilmachung aller „Humanressourcen“, wenn der westdeutsche Teilstaat nicht spätestens 1970 auf das Niveau eines Entwicklungslandes abrutschen wolle.

Der im Schwarzwald krasse Elite-Erziehung treibende Picht forderte, entgegen eigener reformpädagogischer Überzeugungen, die Anzahl der Abiturienten zu verdoppeln, den Zugang zu den Hochschulen über den zweiten Bildungsweg zu verbreitern, den Lehrerberuf attraktiver zu machen und den Ausbau der Hochschulen zu forcieren.

Von Bildungsinhalten war bei Picht fatalerweise nicht die Rede. Er begnügte sich damit, Wirsings programmatische Einleitung zur Artikelserie zu variieren. Und die nahm die bildungspolitische Phraseologie, die Europas „Bologna-Reform“ rechtfertigen sollte, um Jahrzehnte vorweg. Aus „falsch verstandenem Konservatismus“, so Wirsing, dürfe man nicht länger am Bildungssystem des 19. Jahrhunderts festhalten. „Zehntausende von Technikern“ fehlten, Schulen und Universitäten seien endlich den „Wandlungen eines hochindustrialisierten Wirtschaftssystems“ anzupassen. Vom geistigen Potential, gemessen an der Zahl der Abiturienten, so ergänzte Picht, hänge in der modernen Welt die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, die Höhe des Sozialprodukts und die „politische Stellung“ der Nation ab.

Als hätte man nur darauf gewartet, gingen Bund und Länder 1964 daran, die prognostizierte „Katastrophe“ abzuwenden. Bald befeuert von den durch „1968“ genährten Sozialutopien, schossen „Reformuniversitäten“ wie Bochum, Bielefeld und Konstanz empor, die Abi-turientenzahlen begannen sich Ende der 1970er zu verdoppeln, die der Studierenden zu vervierfachen. Hauptprofiteure waren jedoch nicht die, wie von Picht und Wirsing erhofft, naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen, sondern auf „Systemüberwindung“ fixierte „Schwatzfächer“ wie Politologie, Pädagogik und Soziologie. Sie versprachen die neomarxistische „Transformation spätkapitalistischer Strukturen“ in Richtung auf das Paradies der Herrschaftsfreiheit.

Als dieser revolutionäre Impetus in den achtziger Jahren erlahmte, entstiegen aus den Sedimenten die „Gender Studies“. Wie Harald Martenstein in der Zeit (6. Juni 2013) vorrechnet, sind den deutschen Hochschulen zwischen 1990 und 2011 üppige 173 Lehrstühle für fast ausschließlich weibliche Vertreter der „Geschlechterforschung“ implementiert worden. Unerwähnt ließ er die 46 Institute und „Interdisziplinären Zentren für Frauen- und Geschlechterforschung“, mit denen heute jede bessere Hochschule renommiert.

Was Martenstein ebenso verschweigt, ist die volkswirtschaftliche Belastung, die aus dieser neuen Bewußtseinsindustrie resultiert, nämlich wenigstens 200 Millionen Euro jährlich, den außerplanmäßigen Geldregen aus „Drittmittel“-Töpfen nicht mitgerechnet. Zusammen mit den 120 bis 150 Millionen Euro für knapp 2.000 „Gleichstellungsbeauftragt*nnen“, quasi dem bewaffneten Arm der Gender-Forschung, ist das schon ein Sümmchen, das leiderprobte Steuerzahler quälen sollte.

Dabei dürfte der am schnellsten wachsende, unselbständige Wissenschaftszweig, dessen Verfechterinnen sich alle in den traditionellen Geistes- und Sozialwissenschaften akademisch qualifizierten, erst am Anfang einer beispiellosen Erfolgsgeschichte stehen. Die Literaturproduktion kam jedenfalls erst nach 2005 so richtig in Schwung, Zeitschriften und Jahrbücher haben sich langsam etabliert, der Tagungszirkus inszeniert sich noch nicht mit geölter Routine. Aber alle Lebensbereiche in Vergangenheit und Gegenwart werden emsig auf „Geschlechtergerechtigkeit“ durchleuchtet. Egal ob es sich dabei um die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen handelt, wo man Führungen am Gender-Maßstab ausrichtet, oder um genderspezifische Aspekte des Migrations-Managements und des Steuerrechts.

Viele Titel dieser Untersuchungen lesen sich zwar wie Parodien auf Wissenschaft und animieren zu schenkelklopfender Belustigung. Aber diesen Papierausstoß bloß als Erzeugnisse einer Qualität durch Quantität kompensierenden „Anti-Wissenschaft“ (Martenstein) abzutun, greift zu kurz. Denn „Geschlechterforschung“ ist keine Mode, die Lächerlichkeit töten könnte. Hinter ihr steht in Europa wie in den USA die geballte politische und ökonomische Macht. „Gender Mainstreaming“ ist das EU-Projekt, das diktiert, bei allen gesellschaftlichen Vorhaben, politischen und administrativen Entscheidungen die Gleichstellung der Geschlechter zu berücksichtigen. Es ist neben der supranationalen „Integration“ europäischer Nationalstaaten und der forcierten „Migration“ die dritte Säule Brüsseler Politik, der sich seit 1998 auch alle Bundesregierungen mit Haut und Haaren verschrieben haben. Wohldotierte „Gender Studies“ sollen auf den dafür nötigen Bewußtseinswandel hinwirken.

Strukturell unterscheiden sie sich daher kaum vom „emanzipatorischen“ Egalitarismus der 68er-Theorien. Nur ersetzen die Frauen die Arbeiterklasse als Objekt der „Befreiung“, und die durch permanente „Dekonstruktion“ des „konstruierten“ kulturellen („Gender“) wie des biologischen („Sex“) Geschlechts zu installierende geschlechtergerechte tritt anstelle der klassenlosen Gesellschaft.

Und auch die alte Glücksverheißung, 1968 von Daniel Cohn-Bendit formuliert, lautet unverändert, dem Lustprinzip zu folgen, um „endlich ohne Hemmungen genießen zu können“. Nirgends enthüllt sich dieses radikal hedonistische Menschen- und Weltbild klarer als in den „postfeministischen“ Gender-Positionen zu Prostitution und Pornographie. Solange es bei den „Sexarbeiterinnen“ nur „selbstbestimmt und lustvoll“ zugehe, sei dagegen so wenig einzuwenden wie gegen den Frauenhandel, der als „transnationale Prostitution“ eine Variante der Arbeitsmigration sei.

Hier zeichnen sich unter der Parole „Selbstbestimmung“, auf deren Konto heute bereits die höchste deutsche Analphabetenquote seit 130 Jahren geht, die Umrisse defizitärer Menschlichkeit ab. Mit ihrem „Dekonstruktions“-Mantra, das die Verflüssigung und Auflösung von Identitäten propagiert, fügen sich die „Gender Studies“ darum trefflich dem neoliberalen Imperativ, der nach Mobilisierung und Deregulierung der Arbeitssubjekte und ihrer Ballung in termitischen Konsumentenhaufen verlangt.

Die hohen Standards allseitiger humanistischer Bildung oberhalb des Lustprinzips, denen der von Humboldts Idealen affizierte Karl Marx so verpflichtet blieb wie der unglückselige Platoniker Picht, der 1964 ahnungslos dazu ermunterte, die Büchse der Pandora zu öffnen – sie stören bei diesem Abbau des Menschlichen nur.

Foto: Studienanfänger im Hörsaal der Universität Kassel; Symbol der Geschlechter: Ein zu installierendes genderiertes Menschenbild tritt anstelle der Utopie von der klassenlosen Gesellschaft

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