© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/13 / 27. September 2013

Das Böse – stärker als der Staat
Frankreich: Vor allem im Süden des Landes gerät die Kriminalität mehr und mehr außer Kontrolle / Machtlose Polizei und hilflose Politik
Norbert Breuer-Pyroth

Noch schmückt sich das 2.600 Jahre alte Marseille mit dem Titel „Kulturhauptstadt des Jahres“. Doch die schöngeistigen Höhenflüge in Konzerten, Lesungen, Expositionen und Museen für Hunderttausende von Besuchern werden fast täglich durch eine brutale Unterwelt konterkariert. Gerade in diesem Jahr wird die provenzalische Hafenstadt ihrem althergebrachten und unliebsamen Ruf als Ganovenhochburg einmal mehr spektakulär gerecht: die Kriminalität bordet über. Vor allem das bürgerliche Frankreich ist beunruhigt.

Nahezu signifikant für die Malaise der zweitgrößten französischen Stadt, die sich zu allem Überfluß auch noch in wirtschaftlich prekärer Lage wiederfindet – gerade am Tage des Besuchs des deutschen Bundespräsidenten wurde in der Hafenstadt ein 30jähriger in seinem Wagen von zwei Unbekannten von einem Motorrad aus hingerichtet.

„Da kann nur noch die Armee helfen“

Die Leiche wies 19 Einschüsse auf und entpuppte sich als Adrien Anigo, der Sohn des Sportdirektors des Fußballclubs Olympique Marseille. Womit in diesem Jahr schon 15 Menschen auf offener Straße ermordet wurden. Die Verbrechen werden zumeist sogenannten „règlements de comptes“ zugeschrieben. Es handelt es sich dabei um Abrechnungen im Gangstermilieu, welches sich vornehmlich aus dem Drogensumpf und der Mafia speist. Adrien Anigo wurde verdächtigt, selbst Mitglied einer Bande zu sein, die in Südfrankreich Einbrüche in Juwelierläden verübt.

Die 1968 in Marseille geborene, algerischstämmige Samia Ghali, Senatorin des Departements Bouches-du-Rhône und Bürgermeisterin des 15. und 16. Arrondissements der Stadt, klagt: „Der Drogenhandel ist überall, kein Teil der Stadt ist davon unberührt.“ Und sie stellt in Abrede, daß die Polizeipräsenz in Marseille ausreichend sei. „Angesichts der Kriegsmaschinerie, die die Banden benützen, kann nur noch die Armee helfen. Um zuerst die Dealer zu entwaffnen. Und um dann, wie in Kriegszeiten, mit Barrieren den Weg zu den Vierteln für die Kunden abzuriegeln“, forderte die Sozialistin. Manuel Valls, der französische Innenminister katalanischer Abstammung, und Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian indes haben dem Ruf nach einem Einsatz von Militär sogleich eine klare Absage erteilt. Schließlich existiere kein „innerstaatlicher Feind“, der ein solches Vorgehen rechtfertige.

Premierminister Jean-Marc Ayrault eilte nun aus Paris herbei und versprach 230 weitere Polizeikräfte. Doch diese Verheißungen kennt man in Frankreich zur Genüge. Die angesehenste Tageszeitung Le Monde zeigt dazu auf ihrer Netzseite ein Video, das realsatirische Züge aufweist, indem es belegt, daß die Politiker nach Mordanschlägen seit 2010 fast wortgleich reagieren. Doch was an Resultaten können sie vorweisen? Wenig.

Die Banden agieren unbeeindruckt weiter, und die Drogenkuriere sind emsig: Mitte September hat die französische Antidrogenpolizei an Bord einer Air-France-Maschine, die aus Caracas einschwebte, 1,3 Tonnen reines Kokain im Werte von 200 Millionen Euro aufgespürt.

In Marseille ist das „Milieu“ von früher längst Geschichte. Es war mit Namen von Caïds (Bandenführer) „alter Schule“ wie Spirito, Carbone, Guérini, Zampa und „Francis le Belge“ verbun-den. Mit der Ermordung des letzteren, der eigentlich Vanverberghe hieß, ging es ab dem Jahre 2000 unter. Über ihn – den in Marseille aufgewachsenen, hünenhaften Sohn belgischer Einwan-derer – erzählte sein Verteidiger Fréderic Monneret noch im Mai 2013: „Er hatte eine natürliche Autorität, das Aussehen eines Filmstars. Im Vergleich zu anderen wußte er zu debattieren und war ein heller Kopf. Er wurde niemals aggressiv. Und zu keiner Zeit arrogant gegenüber Richtern oder Polizisten. Er hätte überall erfolgreich Karriere machen können, gleich wo. Die Jungen von heute haben den Respekt vor den Alten und deren Regeln verloren.“ Gaunerehre und Ehrenkodex zählen nichts mehr: junge, gnadenlose, barbarisch ungebildete Zügellose beherrschen zunehmend in Marseille das Chaos.

Die Nachfolgekämpfe währen allerdings fort, angeheizt durch ständig neu hinzukommende Banden ausländischer Provenienz, auch Zigeuner, auf einem trotz 111 Stadtvierteln immer enger werdenden, heftig umtosten Terrain. Der Norden der Provence-Metropole beherbergt die größte afrikanisch-arabische Siedlung Europas, Touristen meiden ihn. Dieser Teil Marseilles ist von der Regierung in Paris 2012 zur „prioritären Sicherheitszone“ erklärt worden. Anfang Juni demonstrierten viele hundert Einwohner gegen die Gewalt und forderten bessere Maßnahmen zu deren Eindämmung.

Illegale Einwanderung potenziert die Probleme

Eine andere Seite – frankreichweit betrachtet – beleuchtet Christophe Barbier, Chefredakteur des L’Express, einem der wichtigsten Nachrichtenmagazine im Hexagon: „Die Macht der finanziellen Mittel läßt das Schlimmste befürchten; daß das Böse eines Tages stärker als der Staat sein wird“ und ruft dazu auf, „ethisch standhafte Politiker zu wählen“. Autor Alain Bauer, der eine „Kriminalhistorie Frankreichs“ veröffentlichte, äußert, das verbrecherische Milieu sei vom kleinen „Supermarkt zum großen Warenhaus“ mutiert. Die Taten seien wie echte Militäraktionen organisiert.

Die italienische Mafia kolonisiert nicht nur Frankreich immer besorgniserregender. In Frankreich selbst sind die Caïds zudem kaum mehr französischer Herkunft, sondern zunehmend – so in der Prostitution – bulgarischer, rumänischer, albanischer, vor allem auch afrikanischer Provenienz. Die französische Regierung schätzt, daß sich zwischen 200.000 und 400.000 illegale Einwanderer („sans-papiers“) im Lande befinden und jährlich 80.000 bis 100.000 hinzukommen.

Polizei und Politik reagieren seit langem schon eher rat- und hilflos. Mit dem telegenen 57 Jahre alten Michel Neyret wurde im südfranzösischen Lyon gar ein aufgrund seiner Erfolge in der Verbrechensbekämpfung hochdekorierter „superflic“ wegen Korruption im Drogenbereich für acht Monate eingesperrt. Er war die Nummer zwei der Kriminalpolizei der zweitwichtigsten französischen Stadt, galt als „Alptraum der Verbrecher“.

Doch es sind beileibe nicht nur Marseille, Paris, Lille, Lyon oder Grenoble, wo „le milieu“ (die Unterwelt) auf dem Tisch tanzt, als gäbe es die bürgerliche Welt mit ihren Schutzräumen gar nicht mehr. Die Korsen beispielshalber legen Wert darauf, ihre Hauptstadt Ajaccio sei „nicht Palermo“. Sie haben recht, es geht bei ihnen nämlich noch schlimmer zu: Korsika kann als blutigste Region Westeuropas gelten: In Sizilien (sechs Millionen Einwohner) gab es 2009 neunzehn Morde im Mafia-Milieu, auf Korsika (309.000 Einwohner) dagegen siebzehn.

Die französische Riviera bleibt indes ein Schmückstück europäischer Landschaftsgrazie, der Glamour von Cannes und Nizza lebt fort. In der anmutigen Provence, wo die Menschen älter werden also anderswo in Europa – Jeanne Calment aus Arles wurde 122 Jahre alt –, ist das Leben spürbar gefährlicher geworden.

Als Urlauber wird man vom Verbrechen jedoch eher selten tangiert. Die Kinokulisse wirkt friedlich und mondän, wie eh und je. Marseille war indes neben Toulon schon immer eine Ausnahme. Mit gutem Grund siedelte Georges Simenon seinen „Kommissar Maigret“ zuallererst dort an, bevor er ihn nach Paris sandte. Gangsterfilme wie „Borsalino“ wählten gerne Marseille als Bühne.

Doch auch der Hollywood-Ableger Cannes hat es nicht mehr leicht. An der weltberühmten Croisette tummeln sich nicht nur Filmgrößen wie Clint Eastwood oder Kevin Costner, sondern auch dreiste Diebe. Kürzlich erbeuteten sie einen Diamantring im Wert von 70.000 Euro – Kleingeld in einer wahren Kaskade von Untaten, die in einem Diebstahl von Uhren im Wert von einer Million Euro gipfelte. Dann der Clou: Ein maskierter Räuber suchte am hellichten Tage das Luxushotel „Carlton“ heim und stahl Schmuck für 103 Millionen Euro – der wohl größte Juwelenraub aller Zeiten.

Raubzüge in der Bahn  verunsichern die Pendler

Der Franzose, die Französin, gerade auch die 860.000 „Marseillais“ auf der Straße ängstigen sich zunehmend im Alltag. Exemplarisch: Die schnittigen TER-Pendelzüge der französischen Bahn (SNCF) dienen vor allem der regionalen Beförderung der Franzosen zur Arbeit. Seit Beginn des Jahres wurden auf deren provenzalischer Linie von Marseille nach Aix-en-Provence nicht nur Bahnbedienstete vermehrt Opfer von Übergriffen.

Tausende Passagiere wurden mittlerweile ausgeraubt: Notebooks, Schmuck und Smartphones sind bevorzugte Beute. Meist handelt es sich um zwei oder drei Kriminelle, die zunächst hin- und zurückfahren, um auszukundschaften, ob Polizisten an Bord sind. Erst dann schlagen sie zu. Fast immer handelt es sich um sogenannte „vols à l’arrachée“. Den Opfern werden dabei Wertgegenstände plötzlich entrissen. Der Täter verschwindet dann in perfektem Zeitablauf durch die automatisierte Bahntür – Sekundenbruchteile bevor diese schließt.

Es handelt sich nach Polizeiangaben großteils um minderjährige Täter, die mit Hehlern in einschlägigen Marseiller Vierteln in Kontakt stehen. Nun arbeitet die Bahn eng mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen. Es wurden für eine Million Euro 75 Video-Überwachungssysteme installiert. Die Aufklärungsquote liegt mittlerweile bei nahezu 80 Prozent.

Geradezu anheimelnd mag es am Ende schon wirken, daß im Sommer zwei Polizisten der bei Saint-Tropez im Departement Var gelegenen, beschaulichen Gemeinde Cogolin wegen Alkohols im Dienst angeklagt wurden. Einer der beiden Beamten lag hinter dem Steuer seines Polizeiwagens und schlief seinen Rausch aus. Es war aber auch nicht viel zu tun in diesem Sommer, wie Capitaine Grégory Moura dem Var Matin berichtete: Einbrüche, Diebstähle und Schlägereien seien am Golf von Saint-Tropez merklich zurückgegangen; was auch sechzig neuen Gendarmen zu danken sei, die man ihnen gesandt habe. Allerdings sei kein einziger Sommerabend vergangen, an dem man keine Alkoholsünder am Steuer ertappt habe.

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