© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/13 / 27. September 2013

Die Machtlust des Kritikers
Theatralisches Talent: Marcel Reich-Ranicki, ebenso unterhaltsam wie selbstherrlich, etablierte hierzulande einen literaturpolitischen Diskurs, der weit über seinen Tod hinauswirkt
Thorsten Hinz

Die Nachrufe auf den Mittwoch voriger Woche mit 93 Jahren verstorbenen und diesen Donnerstag beigesetzten Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki verdichten sich zum Apotheose-Chor. Er sei der „Herr der Bücher“ gewesen, ein „Gigant“, „der Mann, der uns das Lesen lehrte“, das „Staatsoberhaupt der literarischen Republik“, der „Größte, Wichtigste, Witzigste, Gefährlichste“.

Unbestritten war er der einflußreichste Literaturkritiker der Bundesrepublik. Nicht wegen der Substanz, doch wegen der Durchschlagskraft und seismographischen Bedeutung seiner Urteilssprüche. An ihnen lassen sich Rang und Wert ablesen, die der Kulturbetrieb einem Schriftsteller zumaß. Seine Belesenheit, sein Temperament, seine Formulierungskraft und Schlagfertigkeit waren enorm. Enorm war auch sein theatralisches Talent, das er auf den Tagungen der „Gruppe 47“, später beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt auslebte und seit 1988 im „Literarischen Quartett“ des ZDF zur vollen Entfaltung brachte.

Im Fernsehen erlangte er Massenpopularität. Zugleich traten seine Fragwürdigkeiten um so deutlicher hervor. Er agierte als Entertainer, der ins Clowneske abkippte, und wurde zum Inventar der funkelektronischen Krawallwelt, die er 2008 bei der Zurückweisung des Fernsehpreises, der ihm verliehen werden sollte, dann so spektakulär vor laufender Kamera attackierte. Auch das gehörte zum Spiel.

Sein Feld war das Sekundäre. Wie kein anderer verkörperte er „die byzantinische Vorherrschaft des sekundären und parasitären Diskurses gegenüber der Unmittelbarkeit, des Kritischen gegenüber dem Schöpferischen“, das der Literaturwissenschaftler George Steiner analysiert hat. Der Machtlust des Kritikers entspricht auf seiten des Lesers „ein ängstliches Verlangen (...) nach erläuternd-wertender Vermittlung“. Mit der Folge, daß der Rezensent den Schriftsteller in den Hintergrund drängt.

Das Buch, um das es vordergründig geht, bildet nur noch den Vorwand und die Draufgabe. Gekauft wird es als Fetisch, als Zeichen der Dinstinktion beziehungsweise der Zugehörigkeit zur Gemeinde. Kultiviert werden jene Autoren, „die sich am besten rezensieren lassen“ (G. Steiner). Am Ende ist es unnötig, den Primärtext – den Roman oder Gedichtband – überhaupt noch zu lesen. Der Literaturbetrieb, den Reich-Ranicki repräsentierte, stand im Zeichen des ideologischen und des Konsum-Opportunismus. Der Weg zu Katharsis und ästhetischer Verfeinerung wurde von ihm eher verbaut als eröffnet.

Die Möglichkeit und Gefahr des Machtmißbrauchs lagen stets auf der Hand. Über Ernst Jünger, zu dessen Werk er keinen Zugang fand, schwieg er wenigstens. Einen weniger etablierten Autor wie Gerd Gaiser aber, der ihm weltanschaulich ebenfalls suspekt war, half er zu vernichten. Dieser Fall ist für das Wirken Reich-Ranickis von exemplarischer Bedeutung.

Seit dem 1953 veröffentlichten Roman „Die sterbende Jagd“ galt Gaiser als wichtiger Gegenwartsautor. Das Buch handelt von einer deutschen Fliegerstaffel, die am Ende des Zweiten Weltkriegs aufgerieben wird. Das Buch will die Strukturen, Zwänge, Bedingtheiten und Horizonte, in denen deutsche Soldaten sich bewegten, aus sich heraus zum Sprechen bringen, anstatt besserwisserisch über sie zu urteilen.

In einem großangelegten Aufsatz warf Reich-Ranicki 1963 dem Autor vor, sich „weinerlich“, „unerträglich rührselig“ und voller „Selbstgerechtigkeit“ zu geben und bestritt seinen Figuren das Tiefste und Menschlichste: ihre Tragik! Der Gewaltschlag endete mit den Sätzen: „Er (Gaiser) stellt sich nicht den Problemen, er entstellt sie, indem er sie poetisiert. Sein Werk dient nicht der Wahrheit.“

Reich-Ranicki argumentierte in den Mustern simpler Realismus-Theorien, die von der Literatur die „Widerspiegelung“ einer „objektiven Realität“ und „objektive Totalität“ (Georg Lukacs) einforderten und den „Subjektivismus“ als Todsünde geißelten. Als Reich-Ranicki 1958 aus Polen nach Deutschland kam, hatte er mit dem kommunistischen Dogma zwar längst gebrochen, ohne jedoch seine Denkstrukturen überwunden zu haben. Gewandelt hatten sich deren Vorzeichen. Statt Gaiser erhob er Heinrich Böll, um dessen künstlerische Schwächen er genau wußte, zum literarischen Leiststern und lobte dessen Versuch, „im Dienste der Gegenwart die Einheit von Sprache und Gewissen, von Kunst und Moral zu verwirklichen“.

Treffender hätte auch ein Kulturfunktionär der SED sein literarisches Ideal nicht beschreiben können. An die Stelle der „objektiven Realität“, widergespiegelt durch den Marxismus-Leninismus, trat die „Wahrheit“ der deutschen Schuld, deren Aufarbeitung Böll sich hingebungsvoll widmete. Diese Handlungsanweisung wirkt bis heute nach.

Die Selbstherrlichkeit des Kritikers war so folgenreich, weil sie mit dem Zeitgeist, den Machtverhältnissen und der gesellschaftlichen Entwicklung korrespondierte. Der Aufsatz gegen Gaiser erschien 1963 in der einflußreichen, von Melvin J. Lasky herausgegebenen Zeitschrift Der Monat. Wenige Monate später beschäftigte Reich-Ranicki sich in der Wochenzeitung Die Zeit mit dem laufenden Auschwitz-Prozeß. Erneut verwies er auf Gaiser, der „damals mitgemacht, seitdem viele Bücher verfaßt (hatte), die aber, meiner Ansicht nach, fast immer von demselben Geist zeugen. (...) Jedenfalls ist, was da in Frankfurt abgehandelt wird, unser aller Sache. Ist es Gaisers Sache nicht?“ Damit hatte er einen tödlichen Zusammenhang hergestellt und, über den konkreten Anlaß hinaus, einen literaturpolitischen Machtdiskurs etabliert.

Der Person Reich-Ranickis wird allerdings nur gerecht, wer berücksichtigt, daß dieser 1920 geborene Mann in seinen jungen Jahren durch die Hölle gegangen ist. Es begann mit Zurücksetzungen und Demütigungen, die er als Jude in Berlin erlebte. Es folgten furchtbare Jahre im Warschauer Ghetto, die quälende Tätigkeit im sogenannten Judenrat, die Ermordung der Eltern, der Schwiegermutter. Der Bruder und der Schwiegervater sahen den einzigen Ausweg im Freitod. Dann das Leben im Versteck unter ständiger Angst vor dem Entdecktwerden, vor Verrat und Tod.

Die Last dieses Schicksals, heute auf zehn Normalsterbliche verteilt, würde jedem einzelnen wohl das Kreuz brechen. Daher geniert man sich, an diese Biographie überhaupt zu rühren. Mit der Folge, daß tabuisierte Leerzonen entstehen, in denen Apotheosen – Erhebungen, Vergöttlichungen – vollzogen werden, hinter denen sich Projektionen und Machtstrategien verbergen. Die Einführung des unanfechtbaren Holocaust-Zeugen in den öffentlichen Raum, die auch Reich-Ranicki erfuhr, bildet einen noch zu schreibenden Absatz in der Dialektik der Aufklärung der späten Bundesrepublik.

Parallel dazu wurde im Feuilleton der FAZ seine exklusive Verhausgottung betrieben. Reich-Ranicki erschien qua Herkunft und Lebensschicksal je länger, desto mehr die berufene Instanz zu sein, das geistige Erbe Deutschlands zu sichten, zu lizenzieren und sie den geläuterten Deutschen zurückzuschenken. Was als verkappte Vatersuche des zuständigen Herausgebers seinen Anfang nahm, verfestigte sich zum folgenreichen politischen Programm der noch immer wichtigsten deutschen Zeitung. Der Historiker Ernst Nolte wurde von der Autorenliste gestrichen, Martin Walser wegen der impliziten Reich-Ranicki-Kritik im Roman „Tod eines Kritikers“ des impliziten Antisemitismus geziehen und eine historiographische Mißgeburt wie „Das Amt“ als Wunderwerk geschichtlicher Erkenntnis ausgerufen.

1990 hatte die FAZ den Literaturstreit mit dem Vorwurf an die DDR-Intellektuellen eingeleitet, sie hätten wegen ihrer autoritären Fixierung auf die Vätergeneration der antifaschistischen Protagonisten der DDR ungebührlich lange an der kommunistischen Ideologie festgehalten. In der Fixierung auf Reich-Ranicki reproduziert sie diese autoritäre Verspannung.

Eine für Oktober geplante Gedenkfeier für Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Paulskirche dürfte ein weiterer Baustein zur Kanonisierung seines Lebens werden. Das Buch „Wolke und Weide“ von Gerhard Gnauck, das sich mit den polnischen Jahren Reich-Ranickis beschäftigt, sowie John Sacks „Auge um Auge. Die Geschichte von Juden, die Rache für den Holocaust suchten“, enthalten aber gewichtige Hinweise auf Ausblendungen, die in den gängigen Darstellungen vorgenommen und keinen Bestand haben werden (JF 17/09 und 29/09).

Reich-Ranicki, der Anfang 1945 im oberschlesischen Kattowitz im Auftrag des polnischen Sicherheitsdienstes die Postzensur aufbaute, dürfte von den nahe gelegenen Lagern, wo unter Verantwortung desselben Dienstes Zehntausende Deutsche massakriert wurden, gewußt haben. In seinen 1999 erschienenen Memoiren, die von detaillierten Erinnerungen geradezu übersprudeln, übergeht er diese Zeit in zweieinhalb belanglosen Sätzen. Auch seine Tätigkeit 1946 bei der polnischen Militärmission in Berlin, die hauptsächlich damit beschäftigt war, die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten zu unterstützen, und später in London bei der Überwachung der polnischen Exil-Opposition ist längst noch nicht ausgeleuchtet.

Die Stimmen, die jetzt im Chor bekunden, Marcel Reich-Ranicki wirke über seinen Tod hinaus, haben auf jeden Fall recht.

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