© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/13 / 27. September 2013

Die Freiheit des Individuellen
Leibniz’ Gartenphilosophie
Wolfgang Müller

Der „wilde“ englische Landschaftsgarten und der „geregelte“ französische Barockgarten stehen für unvereinbare Weltbilder und politische Daseinsentwürfe. Dort Natürlichkeit, die dem Individuum Raum zum Lustwandeln läßt und in ungezwungene Verhaltensformen einübt, hier geometrische Künstlichkeit, deren architektonische Grunddisposition die feudale Herrschaftsform widerspiegelt. Dort englischer Liberalismus, hier kontinentaler Absolutismus.

Diese politische Ikonographie beider Gartentypen gehörte lange zum kunsthistorischen Basiswissen, das erst neuerdings erodiert. In Horst Bredekamps von steiler Gelehrsamkeit zeugender Studie über den „Großen Garten“ von Hannover-Herrenhausen münden die jüngsten Zweifel an der Plausibilität hergebrachter Gartentypologie jedoch in einem fulminanten Paradigmenwechsel.

Denn Herrenhausen, in den Jahrzehnten um 1700 angelegt und daher in idealer Weise eine Kopie von Versailles, der Residenz des Sonnenkönigs Ludwig XIV., übersetzt nach der Überzeugung des Berliner Kunsthistorikers eben nicht die hierarchischen Verhältnisse des Absolutismus in die akkurate Ordnung von Beeten, Büschen und Bäumen. Bredekamp stützt seine revisionistische These auf einen Zeugen von unumstößlicher Autorität: das Universalgenie Gottfried Wilhelm Leibniz.

Der Philosoph, 1676 als Bibliothekar nach Hannover berufen, avancierte zum Ratgeber der Herzogin Sophie von Hannover, einer Gartenenthusiastin, auf deren Initiative Herrenhausen zurückgeht. Aus dem Leibniz-Nachlaß fördert Bredekamp eine Fülle von Konzeptionen zutage, die eine lebhafte Anteilnahme des Denkers an den Plänen der Herzogin bezeugen. Einiges davon, wie die Einbeziehung des Gartens in ein Kanalprojekt oder andere von Leibniz’ wassertechnischen Visionen, lenkt den Leser zwar auf Nebenpfade, denn Bredekamp will keinen Beitrag zur Spezialforschung über Leibniz als Mitgestalter von Herrenhausen liefern. Entscheidend ist für ihn vielmehr umgekehrt, wie der „Große Garten“ dessen philosophischen Weltentwurf prägt. Hier entdeckte Leibniz das Prinzip unendlicher Einschachtelung, und er fand damit im Barockgarten, was als Signum des Landschaftsgartens galt: „die Freiheit des Individuellen“.

Horst Bredekamp: Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter. Wagenbach Verlag, Berlin 2012, gebunden, 166 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro

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