© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/13 / 04. Oktober 2013

Flieg, Gedanke, auf goldenen Flügeln
An der Wiege des italienischen Nationalstaates: Zum 200. Geburtstag des Komponisten Giuseppe Verdi
Markus Brandstetter

Drei Dinge haben den größten italienischen Opernkomponisten aller Zeiten geprägt: seine bäuerliche Herkunft, sein Mißerfolg bei der Aufnahmeprüfung am Mailänder Konservatorium und der frühe Verlust von Frau und Kindern. Ohne diese Faktoren wäre Verdi nie zu dem überragenden Komponisten geworden, den wir kennen.

Ohne seine ärmliche Herkunft hätte er sich nicht sein Leben lang seine künstlerisch kompromißlose, ja sture Art bewahrt; und ohne seine frühen Schicksalsschläge hätte er nicht den alle seine Werke durchziehenden Sinn für Katastrophen, Schmerz und Leid entwickelt und die daraus erwachsenden Gegenkräfte in Form von Trost, Zuversicht und Hoffnung geschöpft.

Verdi stammt aus Le Roncole, einem Dörfchen, das eine halbe Autostunde von Cremona liegt – jenem Cremona, wo die Stradivaris und die Amatis ihre Instrumente bauten. Die Gegend ist langweilig und flach, und als Verdi dort am 10. Oktober 1813 geboren wurde, gehörte sie zu Napoleons europäischem Reich. Sein Vater Carlo war Schankwirt, Lebensmittelhändler und Betreiber einer Osteria. Genau wie Verdis Mutter war er Analphabet, ungebildet, unmusikalisch und vom Wesen her ein rechter Bauer: geizig, cholerisch und stur. Verdi hat viel von ihm geerbt.

Später, als er reich und weltberühmt war, hätte Verdi überall leben können, zum Beispiel in Paris, wo Kollege Rossini seine letzten Jahrzehnte faul, dick und gutmütig zwischen Sahnetorten und Burgunderbraten verbrachte. Aber das war Verdis Sache nicht. Der kaufte sich ein Landgut keine fünf Kilometer von seinem Geburtsort, lebte und herrschte dort wie ein Großbauer, schurigelte seine Bediensteten, stiftete ein Krankenhaus und ein Altersheim für betagte Musiker, und war bei allem so, wie er immer war: detailversessen, grantig und konservativ, aber auch sparsam, effizient und gütig.

Mit achtzehn, nachdem er in Le Roncole seit Jahren die Orgel gespielt, Märsche und Ouvertüren komponiert und das Musikerhandwerk beim Kirchenorganisten so gründlich gelernt hatte, wie es ein Genie im Werden nur eben konnte, da ging er nach Mailand, um am Konservatorium zu studieren. Bei der Aufnahmeprüfung fiel er durch, was er Mailand nie verzieh. Als die Mailänder fünfzig Jahre später ihr Konservatorium nach ihm benennen wollten, teilte er ihnen mit: „Jung wolltet ihr mich nicht haben, alt könnt ihr mich nicht haben.“

Und hier zeigt sich zum erstenmal ein Muster, das Verdis ganzes Leben durchziehen wird: Geht etwas schief, dann gibt er nicht auf, sondern gelangt auf einem anderen Weg ans Ziel. Anstatt aufs Konservatorium zu gehen, nimmt Verdi Privatunterricht. Vier Jahre lang schreibt er Kanons, Fugen und vierstimmige Sätze, und dann kann er’s, wie man noch an der Schlußfuge des „Falstaff“ hört.

1835 kehrt er zurück in die Heimat, heiratet die Tochter seines Mäzens, der ihm die Musikausbildung finanziert hat, und wird Maestro di Musica im Städtchen Busseto. Eine Laufbahn als Provinzkapellmeister zeichnet sich ab. Da schlägt das Schicksal zu: Binnen dreier Jahre sterben seine beiden Kinder und seine Frau. Und genau zu der Zeit soll er eine komische Oper schreiben. Verdi wird fast wahnsinnig, erfüllt trotzdem seine Verpflichtungen, schreibt die schlechteste Oper seines Lebens, kassiert einen Mißerfolg und beschließt, nie wieder zu komponieren.

Da drückt ihm Merelli, der Intendant der Mailänder Scala, ein Opernlibretto in die Hand. Verdis Blick fällt auf die Verse, die der Chor zu singen hat: Va, pensiero, sull’ali dorate (Flieg, Gedanke, auf goldenen Flügeln). Binnen Minuten fällt ihm die Melodie zum Gefangenenchor aus „Nabucco“ ein, der späteren inoffiziellen Hymne des italienischen Risorgimento, der Bewegung, die aus dem italienischen Flickenteppich einen einheitlichen Nationalstaat machen will. Die Mailänder Uraufführung der Oper wird zum Triumph und Verdi über Nacht berühmt.

Auf einen Schlag ist er ein gemachter Mann, kann seine Schulden zurückzahlen und sich vor Aufträgen kaum noch retten. Nun beginnen die Galeerenjahre, wie er diese Phase später nennen wird: Zwischen 1842 und 1851 schreibt er vierzehn Opern, große, blutrünstige Tragödien nach Stoffen von Schiller, Shakespeare und Victor Hugo. Andauernd gibt es Ärger mit der Zensur, sind Sänger, Chöre und Orchester entweder mittelmäßig oder grottenschlecht, die Verse seiner Librettisten erbärmlich, die Proben ein Horror.

Aber das sind Verdis Lehrjahre, und als sie vorbei sind, da zeigt er der Welt, wer er wirklich ist: der größte Opernkomponist seit Mozart. 1851 wird „Rigoletto“ uraufgeführt, 1853 „Troubadour“, 1854 schließlich „La Traviata – drei Welterfolge, randvoll mit Melodien, Arien und Ensembles, die jeder kennt und die den Charakter der Opera Seria neu definieren werden.

In den fast fünfzig Jahren bis zu seinem Tod wird Verdi nur mehr acht Opern komponieren, davon zwei Grands Opéras auf französische Libretti („Die Sizilianische Vesper“ und „Don Carlos“), was ihm nicht liegt und Mißerfolge einbringt, weshalb er von da an Sujets, Opernbücher, Theater, Dirigenten, Sänger und Orchester mit zorniger Akribie aussucht und die geringsten Fehler mit eisigem Tadel abstraft.

Mit fünfzig hat Verdi mehr erreicht, als er je hoffen konnte: Er ist der beste und populärste italienische Komponist, Abgeordneter im Nationalparlament, reich, mit Ehrungen überhäuft, er hat wieder geheiratet und ein Mädchen adoptiert, das er wie eine Tochter aufzieht. Er müßte eigentlich nie wieder komponieren, und tatsächlich erzählt er Bekannten wie Journalisten, sein Werk sei abgeschlossen.

Aber in Verdis Kopf spukt seit Jahrzehnten Shakespeare herum. Mit seinem „Macbeth“ ist er unzufrieden, vor King Lear hat er Angst, und einen wirklich guten Librettisten für einen Shakespeare-Stoff gibt es auch nicht. Da tritt Arrigo Boito, dreißig Jahre jünger als Verdi, selber Komponist, ein Bohemien und Dandy, aber auch ein guter Dichter, in sein Leben. In nicht einmal einer Woche legt er Verdi einen Entwurf für „Othello“ vor. Dann passiert fünf Jahre lang gar nichts, doch dann beginnt eine unendlich mühsame Zusammenarbeit, bis „Othello“ dann 1887 – Verdi ist vierundsiebzig – Premiere hat. Die Uraufführung an der Mailänder Scala ist eine Sensation, die Verdi in beste Arbeitslaune versetzt.

Also nochmals Shakespeare, wieder Boito, nur soll es diesmal „Falstaff“ sein, eine komische Oper, Verdis erste seit dem Fehlschlag von 1840. Anfang Februar 1893 hat „Falstaff“ in Mailand Premiere, ein Alterswerk: weise, lustig und voller Verständnis für die Fehler der Welt.

Als Verdi 1901 stirbt, sagt sein erster Biograph über ihn: Mozart, Beethoven und Bach flößen den Menschen Ehrfurcht, Respekt und Bewunderung ein, Verdi aber lieben sie, denn er war einer von uns: einfach, aufrichtig und menschlich.

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