© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/13 / 04. Oktober 2013

Szenen wie aus einer Vorabendserie
Frauenliteratur: Dagmar Leupolds Roman „Unter der Hand“ bietet passable Unterhaltung
Ellen Kositza

Als die FAZ die diesjährige Long-list zum Deutschen Buchpreis vorstellte, rechnete sie Dagmar Leupold in die Riege einer jungen Autorengeneration. Eine wunderliche Zuschreibung; Leupold wird diesen Monat 58, und den ersten ihrer Romane hat sie vor einem Vierteljahrhundert publiziert. Leupold sitzt im Vorstand des Deutschen Literaturfonds, sie arbeitete als Übersetzerin für Italienisch, als Dozentin an deutschen Universitäten und in den USA, wurde in New York promoviert. Sie hat diverse Literaturpreise zugesprochen bekommen. 2009 wurde sie für ihren letzten Roman, „In der Helligkeit der Nacht“, einem gleichsam posthumen Briefwechsel zwischen Heinrich von Kleist und Ulrike Meinhof, vielfach gelobt, im gleichen Jahr kam die Verfilmung ihres früheren Romans „Eden Plaza“ ins Kino.

Auf die sechs Titel umfassende Kurzliste zum Deutschen Buchpreis hat es Leupolds aktueller Roman „Unter der Hand“ nicht geschafft. Im Deutschlandradio mutmaßte man, das läge daran, daß nach 2010 und 2012 nicht schon wieder eine Jung-und-Jung-Autorin den Titel abräumen sollte.

Wer weiß? Vielleicht ist die Jury auch übereingekommen, daß „Unter der Hand“ eher einem Mittelmaß zuzurechnen ist. Es ist ein sympathisches Buch, ein Frauenroman. Kaum denkbar, daß sich männliche Leser für Stil und Inhalt erwärmen könnten. Das gibt es auch in Zeiten, wo actionreiche Lisbeth-Salander-Folgen so erfolgreich wie genderkompatibel auf dem Markt reüssieren.

Dagmar Leupold schreibt, wie meistens, eng an ihrer eigenen Biographie entlang. Daneben wirkt es, als habe die Autorin fortlaufend Alltagsbesonderheiten notiert, die sie nun in ihre Romangeschehen verwebt; Beobachtungen und Begebenheiten, die es verdienen, einmal aufgeschrieben zu werden, in einen Kontext hinein.

Die Protagonistin heißt Minna. Sie wurde im Oktober 1955 geboren, an einem „kleinen Ort am Rhein“, wie die Autorin. Minna war eine Frühgeburt. Sie ist es – der Roman ist im Präsens verfaßt. Rotlichtbestrahlte Rheinkiesel wärmen das kleine Menschenkind, dessen Überlebenschancen gering sind, um nicht zu sagen: unwahrscheinlich. Hartherzige Nonnen überwachen das kaum lebendig zu nennende Objekt. „Auf ihren Wangen ein rötliches Geflecht aus geplatzten Äderchen, zu oft besagten Herren gelobt“, ätzt Leupold über die „fledermausigen“ Schwestern.

Minna wird nicht gestillt, das hält sie für vielsagend und wegweisend. Es gibt auf dem weiteren Lebensweg wenig mütterliche Umarmungen. Es ist also eine beträchtliche Hypothek, die Minna tragen muß. Sie hat es allen gezeigt, das ist ihr stiller Triumph. Im Krankenhaus, damals, sei oft der Satz gefallen, „die Kleine findet nie einen Mann“. Diesen Unkenruf habe die Überlieferung weitergetragen. Niemand habe gedacht, daß aus der erbärmlichen Kreatur mal eine attraktive Frau würde. Das ist sie aber nun, die Minna!

Sie laboriert am Säuglingstrauma, nebenbei hat sie Liebhaber und einen geheimnisvollen italienischen Mäzen, Vico. Der rätselhafte Reiche unterhält Minna großzügig. Als Gegenleistung verlangt er nur dies: Sie möge schreiben. Und anderen Menschen Freude bereiten. Minna schreibt also. Über Franz, den sie mag, aber nicht innig liebt. Franz ist Physiotherapeut, ein guter Mann. „Essen, Massage, Beischlaf“, das ist der angenehme Stundenplan, dem ihre Verabredungen folgen.

Minna schreibt über die wohlhabenden Haushalte, die sie betreut, während die Herrschaften auf Reisen sind. Sie hat den Auftraggebern Namen gegeben. Die einen, die eher sterilen, spröden, nennt sie „Bauhaus“, die anderen, die opulent-schwelgerisch eingerichteten, „d’Annunzio“. Nebenher erteilt Minna Nachhilfe. Ihre auftraggebende Institution hieß Lernhilfe, bevor sie sich, mit adäquat modernisiertem Interieur, in LernForum umbenannte.

Minna ist eine hellwache Registratorin der Differenzen. Ihre Sensibilität ist sympathisch, ihre Beobachtungen sind scharf und detailliert, gleiten mitunter aber ins Psychologisierende ab – und strapazieren bald aufgrund des halb larmoyanten, halb glücksduseligen Grundtons die Lesernerven.

Minnas Schüler heißt Parwiz. Parwiz ist Halb-Iraner, hat ADS und einen Lernrückstand, ist aber hyperintelligent. Minna erinnert sich an selbsterfahrene Zurücksetzungen während ihrer Schulzeit. Die Kindheitstraumata lassen sie nicht los – es ist der Dreh dieser Generation, die um 1968 erwachsen wurde. Parwiz hat faszinierend schwarze Haare, parliert kundig über Kleist und fragt Minna naßforsch, was sie von Simone de Beauvoir halte. Antwort: „Ich mag keine kinderlosen Frauen!“ – „Aber du hast doch auch keine Kinder!“ – „Eben!“ Überall tiefste Schicksalsschächte, die sich um Minna auftun. Oder sagen wir so: Minna schachtet aus, was ihr begeg-net. Einen Blick, ein Wort, ein Kinderlied, das ihr in den Kopf kommt. „Ich plappere vor mich hin, wühle mal wieder in den Eingeweiden der Sprache“, seufzt sie einmal.

Lotte kommt ins Spiel, eine Greisin, die Minna im Wartezimmer eines Arztes kennengelernt hat. Minna bietet Lotte ihre Hilfe an. Bei Einkäufen oder einfach nur der Gesellschaft wegen. Lotte ist Ostpreußin, wie Minnas kalte Mutter. „Lotte, flotte Lotte – Lotte. Ich lasse den Namen nachklingen, schmecke ihn ab“, ein typischer Leupold-Satz. „Lotta auf italienisch. Und das bedeutet Kampf. Schöne Aussichten.“ Die Asche der Mutter hatte Minna an der Kurischen Nehrung „ihrem Wunsch gemäß in der Ostsee zerstreut“.

Alles in diesem Roman erscheint mit einer Prise Tragik bestäubt, schwere Bedeutungen lauern überall. Das Ostpreußen-Drama, die Flucht: sie werden mit Agnes-Miegel-Gedichtfetzen aufgerufen und schicksalhaft bedeutelt. Ortsnamen fallen, Minna berauscht sich an den vergessenen Klängen. Es bleibt an der Oberfläche von Filmszenen. Tränen fließen, aber sie werden nicht zum mitreißenden Strom, sondern gehen unter in den Sprach- und Sinn-Spielen der Autorin. Eine Torte „schmilzt dahin wie ein Versprechen, eine Zusage, ein unschuldiges Ejakulat. Ein sahniges Ja zum Leben, ein halbflüssiges Gebet. Himmlisch.“ Lottes Garten: „So herrlich gebahnt. Und gebannt.“ Ob sie Lottes Nichte sei, wird Minna später im Krankenhaus gefragt: „Die Nichte? Mitnichten!“

Später unternehmen Parwiz, eine Schülerin und Minnas neuer Liebhaber, der gütige Heinrich („schlag mich auf wie ein Buch, vertief dich in mich“), spontane Ausflüge. Szenen wie aus einer turbulenten Vorabendserie, es wird geliebt, pärchenweise, „bildschön schnaubende“ Rappen galoppieren im Hintergrund. „Unter der Hand“ ist das Frühchen Minna also gleichsam unbemerkt zum Glückskind geworden, „kein Wunder beim Dreiklang Kuß, Wein, Sonne“.

Minna neigt nicht nur im tagebuchartig wiedergegebenen Geschehen zum Wein, sie schreibt auch seitenweise wie beschwipst. Nicht, daß das langweilte oder gänzlich ohne Charme und Tiefsinn wäre. Nein, man fühlt sich passabel unterhalten, wie von einem netten Frauenfilm an Abenden, an dem sonst nichts zu tun ist.

Am Ende finden wir Minna in Juodkrante wieder, Ostpreußen. Schwarzort zu deutsch. Das ist nicht ohne Tragik. Aber daß dies eines der zwanzig besten Romane dieses (Buchmessen-)Jahres sein soll? Schwer anzunehmen.

Dagmar Leupold: Unter der Hand. Roman. Jung und Jung, Salzburg 2013, gebunden, 294 Seiten, 22 Euro

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